Zenit Nr. 2, Juni 2021

Hansjörg Vogel hat persönlich erfahren, was es bedeutet, wenn ein Mensch nicht mehr sich selber sein kann. Nach einer Krise führte dies zu einer grundlegenden Neuausrichtung seines Lebens. Rückblickend spürt er eine grosse Dankbarkeit, zeigt ihm doch der rote Faden: «Wenn auch anders, als ich mir vorgestellt hatte, konnte ich zeitlebens Seelsorger sein.» Pro Senectute Kanton Luzern 2 | 21 5 urz vor unserem Gespräch konnte Hansjörg Vogel seinen 70. Geburtstag feiern. Dabei wurde ihm so richtig bewusst: «Der grössere Teil des Lebens liegt hinter mir, die kürzere Zeit vor mir. Im Wissen um meine Endlichkeit heisst das für mich, dankbar zu sein für jeden geschenkten Tag. Dankbar für mein gutes, für mein schönes Leben. Dankbar, dass ich fast immer so leben konnte, wie es mir entsprach, und ich meistens ich selbst sein konnte.» Dies erfuhr er besonders die letzten zehn Jahre bei seiner Tätigkeit als Psychotherapeut. Ende Juni wird er die letzten Therapien abschliessen. Er ist zwar auch mit 70 fit und gesund. Doch spürt er, dass seine Belastbarkeit ab- nimmt. «Mit zunehmendem Alter besteht die Gefahr, dass man die eigenen Grenzen immer weniger spürt. Ich möchte rechtzeitig einen Abschluss finden», sagte er und lacht. Bei der Durchsicht der verschiedenen Verläufe seiner Klienten freut er sich: «Bei meiner psychotherapeutischen Arbeit wurden mir viele Einblicke in das menschliche Leben geschenkt. Ich staune über jeden Menschen und seine Geschichte, über seine Art, mit dem Schicksal umzu- gehen.» Ähnlich erfährt er dies bei privaten Begegnungen, sei es in der Verwandtschaft oder wenn er mit Freundinnen und Freunden über den roten Faden im Leben diskutiert. Zum Beispiel beim «Gnagistamm», an dem sich sieben Theologen und sieben andere Akademiker jeweils am Montagabend austauschen. Runde Geburtstage sind auch Zeiten des Rückblicks und der Erinnerung. Hansjörg Vogel erzählt davon in sei- ner Wohnung am Sonnenberg, wo er mit seiner Frau Agnes Lussi lebt. Ganz in der Nähe ist er aufgewachsen, nach den ersten Jahren an der Pilatusstrasse in Luzern. Deshalb ge- niesst er den vertrauten Blick von der Rigi bis zum Pilatus. Das Berufsziel war nicht auf Anhieb klar. Er wollte mit Menschen zu tun haben und war interessiert an der Medi- zin und Psychotherapie. Motiviert durch seine Religions- lehrer an der Kantonsschule und den Aufbruch durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) entschied er sich für die Theologie. Nach der Matura wünschte er sich einen Ortswechsel und absolvierte das fünfjährige Grundstudium der Theologie an der Gregoriana in Rom. In Luzern schloss er das Studium ab und wurde Vikar in Horw. Er wollte seine Erfahrungen in der Pfarrei theologisch vertiefen und verfasste in Frankfurt seine Doktorarbeit über das Fastenopfer. Darin ging es um Anregungen für eine Umkehrpraxis und eine zeitgemässe Neuausrichtung aus dem Glauben. Ausgehend von der österlichen Aufer- stehung stand dabei das im Zentrum, worauf es im Leben ankommt und was dem Leben dient: Liebe, Wertschätzung und Anerkennung statt Abwertung und Ausnützung. Durch die Doktorarbeit wurden ihm die strukturellen Zu- sammenhänge bewusst: «Es geht nicht nur um die Haltung des einzelnen Menschen, sondern auch um jene der Gesell- schaft. Strukturelle Liebe heisst Gerechtigkeit. Damit ver- bunden muss aus dem Glauben heraus ein Engagement zur Veränderung entstehen, Schritt für Schritt, auch politisch.» Menschenbeziehung ist auch Gottesbeziehung Konnte er dieses Anliegen praktisch umsetzen? Teilweise sei es während seiner fünfjährigen Tätigkeit als Pfarrer in Bern gelungen, z.B. in der ökumenischen Zusammenarbeit in Projekten der Entwicklungshilfe. Mit anderen Kirch- gemeinden engagierte sich seine Pfarrei 1993 beimKirchen- asyl für Menschen aus dem Kosovo, die sonst ausgeschafft worden wären. «Die Ausschaffung wurde nicht vollzogen. Die Menschen waren geduldet. Erst sieben Jahre später hat der Bundesrat in der ‹ Humanitären Aktion 2000 › die Forderung der Initianten erfüllt und dieser Gruppe die vor- läufige Aufnahme gewährt. Damit waren viele Jahre der Unterstützung bei der Integration verpasst.» Die Ernüchterung über das, was machbar und sinnvoll ist, erlebte er nicht nur im gesellschaftlich-politischen, son- dern auch im kirchlichen Bereich, als er mit 43 Jahren zum Bischof von Basel gewählt wurde. «Ich spürte bald, dass ich dieser Aufgabe nicht gewachsen war.» Schon in Bern hatte er gemerkt, dass das kirchliche Leben mehr und mehr an Bedeutung verloren hatte. Wie kann der Glaube in der heu- tigen Gesellschaft weitergegeben werden? Bei dieser Frage fühlte er sich mehr und mehr rat- und hilflos. Er musste erfahren, dass es eigentlich niemand weiss. Die Medien interessierten sich betreffend katholische Kirche fast aus- K IM ZENIT VON MONIKA FISCHER Fotos: Peter Lauth

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