Zenit Nr. 1, Februar 2023

VON WALTER STEFFEN * «Mein Aufenthalt in der Schweiz war voller Schwierigkeiten. Er war kurz – aber voller harter Momente», sagt Mussolini in seinen Memoiren. «Ich wurde von vorne und im Profil fotografiert und mein Bild gelangte, mit der Nummer 1751 versehen, in die Archive der Überwachungspolizei unter die gefährlichen Individuen.» Tatsächlich sass er 1903 zehn Tage im Berner Untersuchungsgefängnis und wurde darauf über Chiasso ausgeschafft, offizieller Grund: «Schriftenmangel». ImHintergrund aber standen seine aufrührerischen Schriften in der Zeitung «Avvenire del lavoratore». Sein Groll über die Schweiz tönt in der Aussage vor dem Parlament 1921 nach: «Die Einheit Italiens ist erst vollendet, wenn das Tessin italienisch geworden ist.» Solche Expansionspläne reichen bis zum Risorgimento, der Einigung Italiens von 1861, zurück. Das Zauberwort hiess schon damals «Irrendentismo», die Rückführung sämtlicher italienischsprachiger Gebiete ins italienische Königreich. Nach dieser Doktrin waren die italienisch und rätoromanisch sprechenden Volksgruppen der Schweiz «unerlöste Bluts- und Sprachbrüder», die künftige Teile des italienischen Reichs bilden sollten. Diese Parolen verfingen bei einzelnen Tessinern vor allem aus einemGrund: Die «Verdeutschung» des Tessins nahm zu. 1837: 0,2% Deutschschweizer; 1920: 5,3%. Die nicht stimmberechtigten italienischen Einwanderer nahmen aber noch stärker zu: 1850: 6,6%; 1920: 21,3%. Daher unterstützte 20 Pro Senectute Kanton Luzern 1 | 23 Mussolini die Tessiner «Irredentisten» finanziell und ideell. Ihr Sprachrohr war die 1912 gegründete Wochenzeitung «L’ Adula» (Das Rheinwaldhorn). Der mit 3402 Meter höchste Grenzberg zwischen dem italienischen und dem deutschen Sprachgebiet eignete sich ausgezeichnet für die nationalistischen Ansprüche der «Rückführer». Die Tessinerin Teresina Bontempi war zwischen 1912 und 1936 Chefredaktorin. Sie wurde nicht müde, das Tessin als rückständiges und von Bern vernachlässigtes Gebiet zu diskreditieren. Tatsächlichwar der Lebensstandard im Tessin aber stets höher als in der benachbarten Lombardei. «L’ Adula» wurde von den Tessiner Behörden mehrmals verboten. 1935 wurde Bontempi wegen Aufwiegelung zumehrerenMonatenGefängnis verurteilt. Sie ging daraufhin ins Exil nach Italien. Der Marsch auf Bellinzona 1934 Wenn es Mussolini mit dem «Marsch auf Rom» 1922 gelungen war, die Macht zu übernehmen, so sollten es auch die Tessiner Faschisten schaffen, mit einem «Marsch auf Bellinzona» die Tessiner Regierung zu stürzen. Zu den Drahtziehern gehörte der begüterte Ingenieur Nino Rezzonico, ein Freund des Waadtländer Oberstbrigadiers Arthur Fonjallaz, des Gründers der Schweizerischen Faschistischen Bewegung. Rezzonico war von Fonjallaz am 29. Oktober 1933 zu seinem Stellvertreter in der italienischen Schweiz ernannt worden und hatte denAuftrag, dieDachorganisation Federazione fascista ticinese aufzubauen. Am 25. Januar 1934 zogen gegen sechzig bewaffnete Anhänger Rezzonicos von Lugano nach Bellinzona mit der Absicht, den Sitz der Kantonsregierung zu besetzen und den Anschluss an Italien zu fordern. Empfangen wurden sie dort von etwa vierhundert Antifaschisten, die Hitlers Angriffspläne auf die Schweiz sind allgemein bekannt. Auch Mussolini hegte solche. Seine Haltung gegenüber der Schweiz war zwiespältig. * Dr. phil. Walter Steffen (*1945) unterrichtete Geschichte, Italienisch und Englisch an den Lehrerseminarien Luzern und Hitzkirch und leitet Exkursionen von Pro Senectute Luzern. Wie Mussolini die Schweiz angreifen wollte

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