KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2025

03 / 2025 DIE MPA SEITE KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 55 FLORENCE DEBRUNNER MEDIZINISCHE PRAXISASSISTENTIN, MEDIZINISCHE PRAXISKOORDINATORIN KLINISCHE RICHTUNG MPK, QUELLENPRAXIS, USTER Korrespondenzadresse: quellenpraxis@hin.ch Die Pädiatrie im Jahr 2055 – Wenn das Stethoskop nur noch Deko ist Die Anmeldung erfolgt über einen Gesichtserkennungsalgorithmus, der auch gleich die aktuelle Stimmung des Kindes analysiert («leicht gereizt, vermutlich wegen Frühstücksmüsli mit falscher Milchalternative») und passende Hintergrundmusik auswählt. Für müde Kinder läuft eine beruhigende Einschlaf-Playlist, für wütende Dreijährige gibt’s Heavy Metal in sanfter Lautstärke. Der Empfangsroboter – Modell «NurseTron 7.5» – überprüft die Impfhistorie, sammelt Daten vom SmartSchnuller («leicht erhöhter Cortisolwert») und reicht einen virtuellen Lolli als Belohnung für das pünktliche Erscheinen. Die Eltern bekommen parallel eine Push-Nachricht: «Ihr Kind wurde erfolgreich eingecheckt. Sie dürfen jetzt durchatmen.» Die klassischen Vorsorgeuntersuchungen heissen jetzt UX1 bis UX12 und beinhalten nicht nur Impfungen, sondern auch psychometrische Scans, KI-Kompatibilitätschecks und gelegentlich eine Ethikdiskussion über Bildschirmzeit. Besonders beliebt ist UX4, bei der das Kind lernt, dass es «Bitte» sagen muss, wenn es eine App herunterladen will. Trotz aller technischen Revolutionen hat sich eines nicht geändert: Kinder schreien weiterhin beim Impfen. Auch wenn der Einstich mittlerweile schmerzfrei ist, das Pflaster ein animiertes Einhorn zeigt und ein Hologramm von Paw Patrol das Händchen hält – Kinder bleiben Kinder. Sie weinen, sie lachen, sie bringen ihre Eltern zur Verzweiflung und zaubern ihnen gleichzeitig das grösste Lächeln ins Gesicht. Und irgendwo im Hintergrund sitzt noch immer eine Kinderärztin oder ein Kinderarzt. Vielleicht nicht mehr mit einem Holz-Zungenspatel in der Hand, aber mit Herz, Humor und der Fähigkeit, selbst im grössten digitalen Durcheinander den Menschen hinter dem Avatar zu erkennen. Denn wenn wir eines gelernt haben in den letzten 30 Jahren: Auch das beste System kann kein Trostpflaster ersetzen, das mit echter Zuwendung geklebt wurde. ■ Wir schreiben das Jahr 2055. Die Dinosaurier sind noch immer ausgestorben, aber zumindest in der Pädiatrie hat sich einiges getan. Kinder kommen heute nicht mehr auf die Welt, sie werden «gelauncht». Schnuller sind mit Bluetooth verbunden, und Medikamente werden von Amazon Prime direkt mit dem Impfmodul in die Hausapotheke geliefert. Natürlich hat sich vieles vereinfacht: Ein kurzer Blick in die Kamera des virtuellen Sprechzimmers reicht aus, und die KI «Dr. Feelgood 9.0» diagnostiziert mit 99,9998% Genauigkeit alles von der Mandelentzündung bis zum ersten Liebeskummer. Sie analysiert automatisch Stimme, Hautbild, Pupillenreaktion und sogar die Neigung zum nächsten Wachstumsschub. Kinderärzt:innen müssen seither hauptsächlich «OK» klicken und ab und zu die Mikrofone ihrer Hologrammsprechstunde entkoppeln, wenn das Haustier versehentlich mitbehandelt wird. Die Krankheiten selbst haben sich ebenfalls weiterentwickelt – oder besser gesagt: Sie wurden systematisiert. Windpocken? Gibt’s nur noch als nostalgischen Filter bei InstaMed. Das Dreitagefieber wurde längst durch ein viel selteneres, aber dafür digital spektakuläreres «Uploadverzögerungssyndrom» ersetzt. Die Kinder bekommen Fieber, wenn ihre Smartwatch mit dem Schulserver synchronisiert – ein harmloser Bug im neuen Schulsoftware-Patch. Eltern, so sagt man, haben es heute leichter. Keine durchwachten Nächte mehr wegen Zahnungsschmerzen – dafür Panik, weil das Baby den QR-Code fürs Milchfläschchen gelöscht hat. Schnuller werden über eine App geortet, der Teddy ist mit WLAN ausgestattet, und das Babyphone ist direkt an das Notfallsystem der WHO gekoppelt. Sicher ist sicher. Schon beim Betreten der Praxis wird das Kind heute natürlich nicht mehr mit einem herzlichen «Grüezi» empfangen – das wäre ja viel zu analog. Stattdessen läuft es durch den automatisierten Check-in-Tunnel, wo ein freundlicher LED-Bogen in Regenbogenfarben blinkt und der integrierte ID-Chip im linken Ohrläppchen kontaktlos gescannt wird. Manila 2025 Foto: Isabelle Cappeliez

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx