KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2025

THEMENHEFTTEIL: 30 JAHRE KIS 03 / 2025 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 40 DR. MED. RAFFAEL GUGGENHEIM FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN, MITGLIED REDAKTIONSKOMMISSION, KINDERARZTPRAXIS FRIESENBERG, ZÜRICH Korrespondenzadresse: dokter@bluewin.ch Ein Tag im Leben eines Kinderarztes vor 50 Jahren Persönliche Erinnerung an «Tokter Trachsler» (1907–2000) Walter Trachsler war einer dieser Ärzte, die ihren Beruf als Berufung sahen. Er war aber nicht nur ein Menschenfreund, er war auch vielseitig interessiert. Wie sein Freund und Kollege Remo Largo einmal bewundernd schrieb, war er einer der ersten Schweizer Kinderärzte, die die Wichtigkeit eines Fellowjahres mit Spezialisierung in den USA erkannten und trotz den damit verbundenen finanziellen und praktischen Schwierigkeiten ein solches machte. Dr. Trachsler arbeitete als Assistent und später als Oberarzt noch unter Prof. Guido Fanconi im Kinderspital Zürich und wurde danach Praktiker mit Herzblut in einem doch sehr fordernden Umfeld. Sein Alltag begann frühmorgens. Damals hatten die Ärzt:innen noch ein Notfalltelefon zu Hause. Die Eltern konnten Tokter Trachsler schon um 7 Uhr anrufen, und auf dem Weg von seiner bescheidenen Wohnung in die Praxis machte er bereits die ersten Hausbesuche. Ich erinnere mich noch gut, als er mich zu Hause auf dem Tisch untersuchte und eine virale Meningitis (ohne LP) diagnostizierte. Pünktlich um 8 Uhr begann er die Sprechstunde in der Praxis. Damals gab es noch keine Vorsorgeuntersuchungen; die Eltern kamen mit ihren kranken Kindern und mit ihren Sorgen und Nöten, setzten sich ins Wartezimmer und «warteten» auf den Tokter. Es gab natürlich die normalen Termine, die Impfungen und die Kontrollen. Auch Unfälle und Frakturen wurden in der Praxis versorgt, Wunden behandelt und offene Riss-Quetsch-Wunden genäht. Wenn der Pädiater hinter seinem grossen Pult sass und wir kleinen Kinder da hereinkommen durften, war er eine Respektsperson und ein Helfer zugleich. Er war immer freundlich, aber auch bestimmt. Er war ein guter Zuhörer, wusste, dass die Mütter (Väter kamen damals nicht in die Praxis) ihre Kinder gut kannten und genau erzählen konnten, wie es ihnen geht. Die Untersuchung wurde immer mit einer kleinen Geschichte durchgeführt, wir durften das Stethoskop auch selbst in die Hand nehmen. Nein – Zaubern und grossartige Ablenkungen gab es bei ihm nicht. Dafür Freundlichkeit, Klarheit und das Gefühl, ernst genommen zu werden. Nach einer vollen Sprechstunde in vielerlei Sprachen ging er am Nachmittag auf Hausbesuch. Das war für ihn selbstverständlich. Wenn ein Kind zu krank war, um in die Praxis zu kommen, dann ging er zu ihm. Er hatte einen kleinen schwarzen Arztkoffer mit Stethoskop und einigen Medikamenten. Mit seinem alten Volvo fuhr er durchs Quartier zu seinen kranken Patient:innen (einen Notfall oder Notfallpraxen gab es damals noch nicht) und schliesslich zur Praxis zurück. Dort sah er noch die Not- «Tokter Trachsler» – so stand es an der Türe seiner Praxis an der Aegertenstrasse im Zürcher Arbeiterquartier Kreis 3. Im zweiten Stock war seine Praxis. Sie bestand aus vier Räumen: Empfang und Wartezimmer, zwei Behandlungszimmer sowie einem Labor und Röntgen. Er arbeitete allein mit seiner MPA, teilweise arbeitete auch seine Frau mit. Tokter Trachsler war ein hochgewachsener Mann mit dunklen, wachsamen Augen, die mich als Patienten stets aufmerksam musterten – verborgen unter buschigen, ausdrucksstarken Augenbrauen. Er erinnerte mich an meinen Grossvater, der ebenfalls Arzt war und in Luzern praktizierte. Mein Kinderarzt hatte stets den weissen Kittel an und arbeitete von früh bis spät in seiner kleinen Praxis für seine grosse Klientel. Ja, seine Klientel umfasste ein buntes Spektrum von Familien: jüdische, italienische, spanische, portugiesische und auch viele Schweizer Arbeiterfamilien. Die meisten seiner Klient:innen waren einfache Menschen, Menschen «vom Volk», Arbeiter:innen und «Büezer». Er lebte ihr Leben mit, er liebte «seine» Familien und ihre Kinder, und er liebte seinen Beruf. Antwort von Dr. med. Walter Trachsler auf die Einladung von Dr. med. Arnold Bächler zur Gründungsversammlung des Forums für Praxispädiatrie am 14. September 1995. Die Referenz zu «Wahlen» bezieht sich auf eine Ansprache von Alt Bundesrat F. T. Wahlen anlässlich seines 80. Geburtstags im Jahr 1979.2

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