KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2025

THEMENHEFTTEIL: 30 JAHRE KIS 03 / 2025 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 36 Im Gegensatz zur Schule begegnen Kinderärzt:innen den Kindern mit einem individualistischen Ansatz, orientieren sich am jeweiligen Entwicklungsprofil und sind sich der inter- und intraindividuellen Variabilität der Kinder und der Diversität des familiären Hintergrundes bewusst. Ihre Aufmerksamkeit gilt mehr den besonderen Fähigkeiten als den bemängelten Defiziten. Damit kommen sie oft zu einer Einschätzung, die jener der schulischen Beurteilung widerspricht. Selbstverständlich sind sich auch erfahrene Lehrpersonen der individuellen Unterschiede innerhalb ihrer Klasse bewusst, nur ist ihr Handlungsspielraum durch die schulischen Rahmenbedingungen eingeschränkt. New Morbidity Von Kinderärzt:innen und Kinderpsychiater:innen wird erwartet, dass sie nicht nur Krankheiten im herkömmlichen Sinn, sondern auch herausfordernde Verhaltensweisen mit einem diagnostischen Stempel versehen. Weil dazu biologische Marker fehlen, haben sich neue diagnostische Begriffe wie «Spektrum-Störungen» und «Neurodiversität» etabliert. In diesem Zusammenhang ist auch von «New Morbidity» die Rede. (Box 1) Schüler-Lehrer-Beziehung Die weltumspannende Metaanalyse verschiedener Einflussfaktoren auf den schulischen Lernerfolg von John Hattie1 zeigt, dass Massnahmen, die den Lernprozess sichtbar machen, die höchste Effizienzstärke aufweisen. Neben dem regelmässigen Feedback zum Lernerfolg ist eine vertrauensvolle Beziehung zur Lehrperson von zentraler Bedeutung, da Lernen in Beziehungen geschieht. Die Entwicklung in den letzten Jahren zeigt jedoch gerade in dieser Beziehung grosse Defizite. Kleine TeilzeitPensen und häufige Stellenwechsel der Lehrpersonen, sowie die grosse Zahl ausserhalb der Klasse wirkender Lehrkräfte erschweren den Aufbau einer tragfähigen Beziehung. Der Bericht einer erfahrenen Unterstufenlehrerin bestätigt diese Beobachtung eindrücklich. (Box 2) Aufteilung der Verantwortung Mit dem Schulstart treten die Eltern einen Teil der Erziehungsverantwortung an die Schule ab. Von da an bestimmt die Schule zunehmend den Alltag des Kindes; inhaltlich und zeitlich. Mit der Übertragung von Hausaufgaben und Prüfungsvorbereitungen greift sie auch stark in die schulfreie Zeit der Kinder ein. Treten Probleme auf, so werden über ein mehrstufiges Verfahren sonderpädagogische Massnahmen in die Wege geleitet, zu denen die Eltern wenig zu sagen haben. Führt diese Unterstützung nicht zum erwarteten Erfolg, wird die Verantwortung wieder den Eltern übertragen, die dazu aber immer weniger in der Lage sind, weil sie sich anderen beruflichen Verpflichtungen zugewandt haben (hochprozentige Berufstätigkeit beider Eltern), Box 1: Häufige diagnostische Kategorien der «New Morbidity» ■ Psychosomatische Beschwerden ■ Spektrum-Störungen (ASS, ADHS) ■ Schulabsentismus, Mobbingsituationen ■ Überforderung durch forcierte schulische Integrationsversuche ■ Psychiatrische Krankheiten im engeren Sinn (Depression, Essstörungen, Selbstverletzung) Box 2: Bericht einer erfahrenen Unterstufenlehrerin Ich unterrichte in einer Unterstufenklasse mit 15 Schülerinnen und Schülern, einige mit Migrationshintergrund, sowie Sprach- und Verhaltensstörungen. Im Verlaufe des ersten Schuljahres wurde der Unterricht stark von 10 externen, sonderpädagogisch tätigen Fachpersonen geprägt. Oft wurden einzelne Kinder aus dem Klassenzimmer geholt, oder arbeiteten mit jemandem im Raum. So war die Klasse fast nie vollständig anwesend, was es sehr schwer machte, einen Klassengeist aufzubauen. Auch in den Pausen zwischen den Lektionen fehlte mir die Zeit für Beziehungsarbeit: Statt mit den Kindern ins Gespräch zu kommen, musste ich Übergabegespräche mit den Fachpersonen führen. So blieb kaum Gelegenheit, die Kinder auch persönlich kennenzulernen. Schliesslich entschloss ich mich, für zwei Wochen alle externen Massnahmen auszusetzen. Zum ersten Mal konnte ich mit allen Kindern gemeinsam arbeiten und beginnen, zu jedem eine persönliche Beziehung aufzubauen. Die Stimmung in der Klasse war insgesamt deutlich entspannter, da das ständige Kommen und Gehen wegfiel. Auch ich konnte endlich eine befriedigende Lehrerfahrung machen. Diese zwei Wochen haben mir eindrücklich gezeigt, wie wichtig das gemeinschaftliche Erleben für den Lernerfolg der Kinder ist – gerade in der ersten Klasse, wo die Basis für erfolgreiches Lernen gelegt wird, und wie entschieden dabei die Balance zwischen individueller Förderung und gemeinschaftlichem Erleben ist. Illustration: © MoMento Swiss

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