03 / 2025 THEMENHEFTTEIL: 30 JAHRE KIS KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 35 DR. MED. ALAIN WIMMERSBERGER FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN, VISP Korrespondenzadresse: alain.wimm@bluewin.ch DR. MED. ARNOLD BÄCHLER FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN, ST. GALLEN Korrespondenzadresse: baechler.arnold@bluewin.ch Macht die Schule Kinder krank? – Nicht alle, aber doch von Jahr zu Jahr mehr! Macht die Schule Kinder krank? trum. Alle Erwachsenen haben in ihrem Leben mit der Schule und der Medizin ihre persönlichen Erfahrungen gemacht und deshalb ihre eigenen Vorstellungen, wie das Bildungswesen und die medizinische Versorgung aussehen sollten. Ein anhaltendes Interesse an der Optimierung der Schule haben aber nur jene, die sich auch ausserhalb der eigenen Schulzeit damit beschäftigen. Neben den Lehrpersonen und den Fachleuten der Sonderpädagogik sind das vor allem Ärzt:innen und Therapeut:innen, die sich beruflich mit Entwicklungsfragen befassen. Eine weitere Gemeinsamkeit von Bildungs- und Gesundheitswesen besteht darin, dass die Politik der wirtschaftlichen Führung dieser Bereiche mehr Bedeutung beimisst als den Bedürfnissen der Kinder. Lehrpersonen und Kinderärzt:innen fühlen sich von diesem Wechsel des Primats in ihrer beruflichen Gestaltungsfreiheit eingeschränkt. Das politische Gerangel um den Zeitpunkt und die Wahl des ersten Fremdsprachenunterrichts zeigt exemplarisch, dass die Erwartungen und Vorstellungen der Erwachsenen höher gewertet werden als die Bedürfnisse der Schüler:innen. Mit dem Frühfranzösisch soll der nationale Zusammenhalt und mit dem Frühenglisch die Eingliederung ins Erwerbsleben gefördert werden. Neben diesen Gemeinsamkeiten von Schule und Pädiatrie gibt es aber auch wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Disziplinen. Besonderheiten von Schule und Pädiatrie Die Volksschule hat als staatliche Institution neben der individuellen Förderung auch noch andere Aspekte zu beachten, wie die Sicherstellung einer angemessenen Schulbildung für alle oder die wirtschaftliche Führung des Schulwesens. Damit verbunden ist die Forderung nach einem sozialverträglichen Verhalten der Schüler:innen, dem Erreichen der Lehrplanziele und der erfolgreichen Eingliederung ins Berufsleben. Beim Verfolgen all dieser Ziele stösst die Volksschule an ihre Grenzen, denn ihr System ist darauf angelegt, in Jahrgangsklassen egalitäre Massstäbe anzuwenden. Damit gerät sie in Konflikt mit der Erkenntnis der Entwicklungspädiatrie, dass der Entwicklungsstand von Kindern desselben Alters um Jahre divergieren kann. Wenn aber Kinder mit ganz unterschiedlichem Entwicklungsstand über den gleichen Leisten geschlagen werden, kann es nicht erstaunen, wenn es vielen von ihnen nicht gelingt, den schulischen Erwartungen zu entsprechen. Eine gesunde Resilienz erlaubt es der Mehrheit der Jugendlichen, die Schulzeit gesund und zukunftsfreudig abzuschliessen. Aber der Anteil der Kinder, welcher den schulischen Erwartungen nicht genügt, nimmt ständig zu. Viele von ihnen erscheinen in der kinderärztlichen Sprechstunde, weil den Schulproblemen bei den Kindern derselbe Krankheitswert zukommt wie den beruflichen Belastungen bei den Erwachsenen. «Die Schule fördert nicht, sie selektioniert nur.» Dieses provokative Statement, das Jean Piaget zugeschrieben wird, stimmt uns noch heute nachdenklich. Je umfangreicher die Vorgaben des Lehrplans und je engmaschiger die Überprüfungen der Zielerreichung geworden sind, desto grösser wird die Zahl jener, die den Normerwartungen der Schule nicht mehr genügen. Auf diese Tatsache reagiert die Schuladministration mit einer Vielzahl von sonderpädagogischen Angeboten. Der Weg zu einer Therapie führt über ein mehrstufiges Abklärungs- und Bewilligungsverfahren, das in der Regel auf ein umschriebenes Defizit fokussiert. Die Massnahme findet meistens ausserhalb des Klassenverbandes statt und wird jeweils für ein Jahr angeordnet. Das Prozedere erinnert mehr an die Abklärung und Behandlung einer Krankheit als an eine pädagogische Förderung, was von den betroffenen Kindern und ihren Eltern oft als Stigmatisierung erlebt wird. Gemeinsamkeiten von Schule und Pädiatrie Schule und Pädiatrie haben vieles gemeinsam. In beiden Disziplinen stehen Kinder und Jugendliche im ZenFoto: Adobe Stock
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