KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2025

THEMENHEFTTEIL: 30 JAHRE KIS 03 / 2025 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 30 EGON GARSTICK DIPLOMSOZIALPÄDAGOGE UND ANALYTISCHER PSYCHOTHERAPEUT, ZÜRICH Korrespondenzadresse: e.garstick@ik.me «Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde – und was wir daraus für unsere Kinder lernen können» Ein prägendes Bucherlebnis führte mich zur Frage: «Welche Bedingungen brauchen Kinder, um gesund aufzuwachsen?» Ausgehend von fachlicher Erfahrung und gesellschaftlicher Beobachtung ist ein stärkeres politisches Engagement von Kinderärzt:innen erforderlich, um gefährdete frühkindliche Entwicklungen besser zu schützen – nötig sind sichere Bindungen, familienfreundliche Strukturen und mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit. Was kleine Menschen brauchen Gedanken zur frühkindlichen Entwicklung, Bindung und unserer Verantwortung gierte Oberärztin und mich mit der Organisation einer öffentlich zugänglichen Fortbildung zum Thema: «Welche bio-psycho-soziale Entwicklungsbedingungen brauchen Kinder, damit sie zu gesunden Menschen heranwachsen können?» Neben Eckhard Schiffer war hierzu auch Remo Largo eingeladen. Beide vertraten dazu ihre pointierten, gesellschaftskritischen Standpunkte.3 In der Abschlussdiskussion forderten einige Teilnehmer:innen dazu auf, noch mehr darüber nachzudenken, was denn nun zu tun sei, wenn eine gesunde bio-psycho-soziale Entwicklung in den heute vorherrschenden Verhältnissen auf jeden Fall für einige Kinder gefährdet ist. Es tauchte die Forderung nach mehr politischem Engagement von ärztlicher Seite auf. Kinderärzt:innen sollten deutlicher in der Öffentlichkeit benennen, was Familien und Kinder in der frühen Kindheit an grossem Stress erleben können und was die Folgen für deren Gesundheit und für die Gesellschaft als Gesamtes sein werden. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass viele niedergelassene Kinderärzt:innen zuerst einmal laut protestieren, wenn wir zu mehr politischem Handeln aufrufen. Es wird darauf hingewiesen, dass die Aufrechterhaltung der medizinischen Grundversorgung für Kinder schon genug Zeit und Energie benötige und man damit schon an den Rand seiner Kräfte gerate. Aber gerade in einer Festschrift zum Thema Pädiatrie der Zukunft muss Platz sein für die Formulierung von politisch relevanten Zukunftsperspektiven. Deshalb erlaube ich mir folgenden Appell an die Leser:innen zu richten: Schaut mit bindungsbasierten, entwicklungspsychologischen, soziologischen und kulturkritischen Brillen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Familien heute versuchen, den Bindungs- und Entwicklungsbedürfnissen ihrer Kinder gerecht zu werden! Das Vorhandensein und die Verlässlichkeit von mütterlichen und väterlichen Kompetenzen sind leider in unserer Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich. Dies u. a. weil viele jüngere Mütter der Individualgeneration4 sich nicht mehr genügend mit einer älteren Müttergeneration identifizieren können oder wollen. Sie befürchten einen zu weitgehenden Verlust ihrer Autonomie, aber verlieren damit die essenziellen innerfamiliären Erfahrun- «Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde»1 ist der Titel eines Buches, das ich zufällig 2003 in einer wissenschaftlichen Buchhandlung entdeckte.2 Zuerst dachte ich, dass da jemand wohl aus Versehen ein Kinderbuch liegen gelassen hat. Der Titel liess mich neugierig werden, und ich fing an, das Buch genauer anzuschauen. Schon nach wenigen Seiten war ich begeistert und fühlte mich wie ein erfolgreicher Goldschürfer, der einen kostbaren Fund zufällig entdeckt hatte. Es war sehr wohl ein Fachbuch, geschrieben in lebendiger Sprache und für Fachkräfte und Laien gleichsam gut verständlich. Ein Psychiater stellte auf eine so lebendige und einfühlsame Art die Kindheitserfahrungen seiner Patient:innen vor, dass ich gar nicht mit dem Lesen in der Buchhandlung aufhören konnte. Ich las berührende Lebensgeschichten von Menschen, die in unsicheren Bindungsbeziehungen emotionale Vernachlässigung erlebt und denen in ihrer Kindheit keine Entwicklungsräume für kreatives Spielen zur Verfügung gestanden hatten. Ich war begeistert über diese berührende Beschreibung von den Lebensgeschichten. Dann fiel mir auf, dass der Autor Dr. Eckhard Schiffer aus meiner norddeutschen Heimat kam und dort als Chefarzt eine psychiatrische Klinik in dem kleinen Städtchen Quakenbrück leitete, in dem ich meine Schulzeit bis zur Matura verbracht hatte. Stolz war ich, dass so eine spannende Arbeit in meiner Heimat entstanden war und berichtete von meiner Entdeckung an meinen damaligen Arbeitsort am Triemlispital (heute: Stadtspital Zürich). Ueli Bühlmann, Chefarzt der Kinderklinik, war schon längere Zeit offen für die Zusammenarbeit zwischen Pädiatrie, Sozialarbeit und psychodynamisch orientierter Psychotherapie. Er war davon überzeugt, dass eine moderne Pädiatrie einen bio-psycho-sozialen Ansatz in Diagnostik und Behandlung braucht, und vom Behandlungsansatz dieses Buchs ebenso begeistert wie ich selbst. Daher beauftragte er Bettina Essers, eine junge und engaEine demokratische, wirtschaftlich prosperierende und innovative Gesellschaft braucht kreative, kooperative und belastbare Menschen – und dies beginnt als Babys mit sicheren Bindungen. « »

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