KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2025

03 / 2025 THEMENHEFTTEIL: 30 JAHRE KIS KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 29 und zum anderen sind es die Umgebungsbedingungen, die die Verletzlichkeit des Kindes virulent werden lassen. Lebt das Kind unter guten Bedingungen, kann es geradezu unverletzt bleiben und aufblühen; wird es von den äusseren Bedingungen her der Gefahr einer Vernachlässigung ausgesetzt, so wird seine in ihm wohnende Verletzlichkeit zur realen Verletzung. Die Verletzlichkeit des Kindes ist insofern gebunden an Natur und Kultur, sie basiert auf den Wesensmerkmalen des Kindes, aber sie wird nur dann manifest, wenn die Lebensbedingungen des Kindes widrig sind. Die Verletzlichkeit des Kindes ist insofern nicht weniger als eine Disposition, die das Kind quasi als Schwebezustand mit einer drohenden Gefahr der Verletzung versieht, ihm zugleich aber die Chance gibt, dass seine Existenz im Zustand verdichteter Verletzlichkeit auch umgemünzt werden kann in das Erschliessen vielfältiger Entfaltungsquellen. Sofern das Kind in Verhältnissen leben kann, die Rücksicht auf seine Verletzlichkeit nehmen, kann es aus seiner Verletzlichkeit eine Ressource machen. Unter günstigen Bedingungen können somit aus der so verletzlichen Potenzialität des Kindes aufblühende Fähigkeiten werden. Alles hängt davon ab, wie man mit dem Kind umgeht. Es hängt eben von den Kulturen der Sorge ab, ob das Kind in die Verletzung stürzt oder ob es in die aufblühende Wachstumsentfaltung springt. Die Verletzlichkeit des Kindes ist von daher wie eine Schwebe zwischen Sturz und Sprung.1 6. Das Kind als Ursprung von Verantwortung An dieser Stelle sehen wir, dass der Umgang mit dem Kind nicht treffender beschrieben werden kann als mit dem Begriff der Verantwortung, denn angesichts der dargelegten Wesensmerkmale des Kindes, die in das Grundmoment der elementaren Verletzlichkeit münden, erkennen wir, dass das Kind per se nach Verantwortung ruft. Allein die Existenz dieses Kindes ruft zur Verantwortung auf; das Kind birgt in sich einen Aufforderungscharakter, der genau auf seine Verletzlichkeit zurückzuführen ist, und dies ist der Aufruf zur Verantwortung. Verantwortung heisst hier nichts anderes als – wie der Name schon sagt – eine Antwort zu finden auf die Bedürfnisse dieses Kindes in seiner grenzenlosen Offenheit zur Welt. Die Bedürfnisse des Kindes sind es also, die uns einen Auftrag erteilen. Die Bedürfnisse wiederum sind auf verschiedenen Ebenen festzumachen; da ist zum einen die rein physische Ebene, die es eben notwendig macht, das Kind mit dem Elementaren zu versorgen, denn seine in ihm schlummernde Entwicklungsfähigkeit ist sehr fragil und kann leicht gestört, ja behindert werden durch Vernachlässigung. Die Entwicklungsperspektive ist deswegen so sensibel, weil es für jede Entwicklung besondere Entwicklungsfenster gibt. Werden diese Fenster verpasst, ist das Nachholen der verpassten Entwicklung umso schwieriger. Neben der physischen Ebene sind es insbesondere die Bedürfnisse auf der psychischen Ebene, die die Zukunft des Kindes bestimmen. Das Kind kann sich nur dann auf den Weg zur Entwicklung des Selbst machen, wenn es Bindungssicherheit hat, wenn es emotionale Kompetenzen entwickeln kann, wenn es Liebe, Sicherheit, Geborgenheit erfährt und wenn es Lob und Anerkennung, Ermutigung und Bestärkung erleben darf. Niemand anderes bedarf eines solchen Schutzes vor seelischer Obdachlosigkeit mehr als die Kinder. Ihr Bedürfnis nach Nähe ist unermesslich und ihr Bezogensein auf andere so wesensbestimmend, dass Kinder in ganz besonderer Weise auf Ansprache und Anerkennung angewiesen bleiben. Kinder sind mehr als alle anderen von sozialen Faktoren abhängig. Sie brauchen Schutzräume, um sich auszuprobieren und sich entwickeln zu können; sie brauchen sozial akzeptierte Orte, an denen sie Kinder sein dürfen, sie brauchen spezifische Anerkennungsmuster, um gut gedeihen zu können, und sie brauchen soziale Strukturen, die sie frühestmöglich auffangen, wenn sich Lebens- oder Gesundheitsprobleme abzeichnen. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass das Kind von seinen Wesensmerkmalen her das grundsätzlich offene Wesen darstellt, das enormes Entwicklungspotenzial in sich birgt; doch damit all das, was dem Kind an Entwicklungsmöglichkeit innewohnt sich auch tatsächlich entfalten kann, bedarf es eines Bewusstseins der gesamten Gesellschaft, nämlich des Bewusstseins, dass wir alle die Bedingung für das Werden der Kinder sind. ■ LITERATUR 1 Maio, Giovanni (2024): Ethik der Verletzlichkeit. Freiburg: Herder. Bild: Lena, 5 Jahre Foto: Pixabay

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