THEMENHEFTTEIL: 30 JAHRE KIS 03 / 2025 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 28 Entwicklungsbedingungen in die Welt geworfen und seine Weiterentwicklung bleibt in jedem Moment angewiesen auf entsprechende Ermöglichungsbedingungen. Das führt uns nun zum vierten Spezifikum des Kindes, nämlich seiner Grundangewiesenheit. 4. Die radikale Angewiesenheit des Kindes So wesensbestimmend die Entwicklungsperspektive des Kindes sein mag, am Ende wird das Potenzial der Entwicklung nur dann in Entwicklungsprozesse umgesetzt werden können, wenn das Kind das Glück hat, in guten Beziehungen zu seinen Bezugspersonen zu leben. Das Kind ist geradezu das Symbol für die AngewiesenErmöglichungsbedingungen, auf die das Kind unabdingbar angewiesen bleibt. Im Grunde ist das Kind diesen Bedingungen geradezu ausgeliefert. Das macht die Existenz des Kindes zu einer in sich verletzlichen Existenz, was uns nunmehr in einem letzten Schritt zu der bereits zu Beginn aufgeworfenen Frage nach der Wesensbestimmung des Kindes zurückführt, und das ist die Frage nach der Grundverletzlichkeit des Kindes. 5. Die elementare Verletzlichkeit des Kindes Alle bis hierhin entfalteten Grundcharakteristika verweisen auf das fünfte und entscheidende Wesensmerkmal des Kindseins, und das ist seine elementare Verletzlichkeit. Diese ergibt sich geradezu logisch aus dem bisher Gesagten. So ergibt sich die Verletzlichkeit des Kindes gerade aus seinen Potenzialen. Weil das Kind so viel Entwicklungspotenzial in sich trägt, ist es besonders verletzlich, und gerade weil es in grundlegender Weise abhängig ist von der Sorge der anderen, wird seine Verletzlichkeit besonders virulent. So liesse sich sagen, dass das Kind geradezu Prototyp der Verletzlichkeit des Menschen ist. Das Kind kann gar als Symbol für die Verletzlichkeit des Menschen gelten. Vor diesem Hintergrund erscheint es umso wichtiger, die Verletzlichkeitsstruktur des Kindes in den Vordergrund zu rücken. Warum ist das Kind verletzlich? Hier gibt es zwei Antworten. Zunächst ist es verletzlich, weil es seiner Natur nach – wie wir gesehen haben – radikal angewiesen ist auf Hilfe Dritter; es ist verletzlich, weil es ohne Hilfe Dritter nicht überleben kann; es ist überdies deswegen besonders verletzlich, weil in dem Kind so viel Potenzial steckt, mehr als in allen anderen Menschen. So paradox es klingen mag, das Potenzial des Kindes ist es, das es so verletzlich macht, denn das, was im Kind steckt, kann sich eben nur dann entfalten, wenn das Kind Unterstützung erhält, wenn es das Glück hat, eingebettet zu sein in eine Kultur der Sorge. Dort wo diese Sorge fehlt, bleiben alle Potenziale des Kindes unentfaltet. Die Entwicklung des Kindes stagniert; das Kind kann nicht wirklich reifen, ja es kann Schaden nehmen, wenn man sich nicht um das Kind kümmert. Schaden nimmt das Kind durch Vernachlässigung, durch Nichtbeachtung, durch fehlende Förderung, durch das Ausgesetztsein in widrige Verhältnisse. Das Kind ist also schon seiner Natur nach verletzlich, weil es seine Natur ist, angewiesen zu sein. Deutlich wird aber auch, dass das Ausmass seiner Verletzlichkeit wiederum weniger von seiner Natur als von der Kultur abhängt, in der das Kind lebt. Das Kind ist deswegen verletzlich, weil es angewiesen ist auf eine Kultur der Sorge und zugleich auf gute Lebensbedingungen. Wir sehen also, dass die Verletzlichkeit des Kindes zwei Ausgangspunkte hat; es sind zum einen die beschriebenen Wesensmerkmale des Kindes, von seiner Entfaltungspotenzialität bis hin zu seiner radikalen Angewiesenheit, die es grundsätzlich verletzlich machen, heit auf andere, denn das Kind braucht andere, um seine Bedürfnisse zu erfüllen, es braucht andere, um «ich» sagen zu lernen, es braucht andere, um Selbstvertrauen zu entwickeln. Das Kindsein ist dadurch charakterisiert, dass das Kind die Bezugspersonen braucht, um sich zu entwickeln. Die im Kind schlummernden Entwicklungspotenziale können sich zu sprudelnden Entfaltungsquellen ausbilden, sofern das Kind Bezugspersonen hat, die sich um es kümmern. So lässt sich Kindsein als ein Sein im Bezogensein auf andere bezeichnen, denn von den anderen kann sich das Kind nicht einfach nur abwenden; das Kind sucht die anderen immer und immer wieder, weil es nicht nur in einer physischen, sondern vor allem in einer psychischen Abhängigkeit von den anderen lebt. Daher bewegt sich das Kind immer im Spannungsfeld zwischen Eigensinn und Angewiesenheit, wobei es die Angewiesenheit ist, die die ganze Existenz des Kindes wesentlich bestimmt. So wird eben die Individualität des Kindes erst durch Sozialisation möglich; es sind die Beziehungen zu anderen, die dem Kind eine Chance zur Identitätsentwicklung geben. Entscheidend für das im Kind enthaltene Entfaltungspotenzial sind somit die Foto: Pixabay
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