KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2025

03 / 2025 THEMENHEFTTEIL: 30 JAHRE KIS KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 27 Unvoreingenommenheit geht eine besonders kostbare Grundbereitschaft einher, und das ist die Fähigkeit zu staunen. Auch und gerade in seiner Disposition zu staunen ist das Kind den Erwachsenen meilenweit voraus. Wenn Kinder manchmal als grosse Philosoph:innen bezeichnet werden, dann liegt das nicht zuletzt an dieser Grunddisposition des staunenden Weltzugangs. Diese verbindet sich mit einem weiteren privilegierten Zugang zur Welt, und das ist die Fähigkeit des Kindes, die Dinge mit frischem Blick so zu sehen, wie sie sein könnten. Das Kind verbindet in jedem Moment Grundneugier mit kreativer Neuschöpfung. Das macht den Weltzugang des Kindes zu einem Zugang, von dem alle viel lernen können. Das Kind kann sich so sehr an neuen Dingen erfreuen, dass es sich neue Dinge einfach vorzustellen vermag. Das erklärt den enormen Erfindungsreichtum der Kinder, der eben Kreativität mit Willensstärke verknüpft. Das Kind kann sich den Dingen so hingeben, dass es in dieser Hingabe in imaginativer Weite Neues entwirft und Freude am Neuen entwickelt. Deutlich wird dadurch, dass das Kind sich in seinem Zugang zu der Welt radikal vom Zugang der Erwachsenen unterscheidet und zwar in der Hinsicht, dass das Kind gerade nicht primär strategisch-zweckrational auf die Welt zugeht, sondern vielmehr explorativ. Das Kind erkundet die Welt in einem offenen Zugang, ohne die Welt auf das festzulegen, was man aus ihr herausholen könnte. Zunächst einmal ist der kindliche Zugang ein zweckfreier Zugang, ja ein spielerischer Zugang, der von dem ziellosen Handeln lebt. Das Kind begegnet der Welt in dem Ansinnen, sie frei zu erkunden und sie eben nicht auf das Nützliche zu reduzieren. Man kann es im Grunde so sehen, dass das Kind der Welt primär als homo ludens, also als spielender Mensch begegnet und nicht als schaffender homo faber. Es ist die Fähigkeit des Kindes, sich spielerisch auf die Welt einzulassen, in der es den Erwachsenen haushoch überlegen ist. Die Fähigkeit zur Zeitlosigkeit macht aus dem kindlichen Zugang zur Welt einen ausgezeichneten Zugang, worin die Kinder schlichtweg die Lehrer der Erwachsenen werden. Sie leben in einer gefühlten Einheit des eigenen Seins und der Zeit, sie können sich in einer Sache so verlieren, wie es die Erwachsenen schon längst verlernt haben, und durch dieses Sich-Verlieren-Können sind sie zur Hingabe fähig. Kinder nehmen einen Zugang zur Welt ein, durch den sie das Primat des Zweckrationalen ausser Kraft setzen. Der kindliche Zugang zur Welt ist ein Zugang des Weggegebenseins an den Augenblick, eine Selbstvergessenheit, mit der Kinder eine Grundhaltung zur Welt vorleben, die etwas von tiefer Lebenskunst in sich birgt. Von hier aus können wir nun zum dritten Spezifikum des Kindes übergehen. 3. Die Grundverfasstheit des Werdens Ein herausragendes Spezifikum des Kindes ist seine ihm innewohnende Grundbereitschaft zur Entwicklung. Kindsein ist nicht weniger als ein Sein mit Entwicklungsperspektive. So vollziehen sich im Kind die dynamischsten und auch radikalsten Entwicklungsprozesse, die einem Menschenleben geschehen können. Wenn das Kindsein etwas Besonderes ist, dann in entscheidender Hinsicht genau deswegen, weil das Kind einen dynamischen Entwicklungsprozess durchlaufen kann, sofern die Bedingungen und auch die Erfahrungen günstig sind. So lässt sich sagen, dass jedes Kind mit einem enormen Potenzial zur Entwicklung versehen ist, aber die Art und das Ausmass der Entwicklung sind nicht einfach vorgegeben wie ein automatischer linearer Prozess. Die Entwicklung des Kindes kann nicht einfach evolutionistisch als etwas Vorbestimmtes angenommen werden, sondern wird in entscheidendem Masse kontextuell mitbestimmt und vor allen Dingen vom Kind selbst mitbestimmt. Es lässt sich also sagen, dass die Entwicklung weniger evolutionistisch denn vielmehr interaktionistisch zu verstehen ist. Es sind die Interaktionen des Kindes, die den wesentlichen Ausschlag für die Art und das Ausmass der Entwicklung geben. Jedes Kind entwickelt sich zwar aus den eigenen Anlagen heraus, aber seine Entwicklung ist nun mal nicht ein Prozess von innen heraus, sondern ein prozessual und interaktiv zu fassender Austausch des Kindes mit seiner Umwelt. Im Grunde lebt das Kind in einem Modus der steten Anverwandlung seiner Anfangsbedingungen. Das Kind und seine Umwelt machen aus dem gegebenen Anfang eine individuell ausgestaltete Entwicklung. Im Vordergrund steht beim Kind daher die besondere Plastizität seiner Entwicklungsmöglichkeiten, sodass sich sagen lässt, dass kein Kind schon in seiner weiteren Entwicklung festgelegt ist. Kein Kind ist definitiv, denn aus jedem Kind kann so viel werden, und dieses Werden hängt in entscheidender Weise von den Umgebungsbedingungen und den das Kind begleitenden Interaktionspartnern ab. Das Kind wird daher mit einer Vielfalt von Foto: Wikimedia Commons

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