THEMENHEFTTEIL: 30 JAHRE KIS 03 / 2025 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 26 PROF. DR. MED. GIOVANNI MAIO, M.A. phil LEHRSTUHL FÜR MEDIZINETHIK, INSTITUT FÜR ETHIK UND GESCHICHTE DER MEDIZIN, UNIVERSITÄT FREIBURG, D-FREIBURG Korrespondenzadresse: maio@ethik.uni-freiburg.de Das Kindsein – Eine philosophische Perspektive viel voraus hat. Voraus hat es ihnen nämlich seine mitreissende Begeisterungsfähigkeit. Das Kind kann sich erwärmen für das, was es erlebt, und in diese Begeisterungsfähigkeit mischt sich zugleich die Fähigkeit zur Sorglosigkeit. Das Kind, das einfach vertraut und sich vollkommen unbeschwert der Welt überlässt, erfährt sich in seiner ureigenen Fähigkeit, die das Kindsein zu etwas Ausgezeichnetem macht. Mit dieser Sorglosigkeit und der damit verbundenen Grundfreude am Dasein ist oft eine weitere Fähigkeit verknüpft, und das ist die Fähigkeit zum kindlichen Optimismus; das Kind kann sich so leicht vorstellen, dass es auch anders sein könnte. Dieser kindliche Optimismus ist wiederum Ausdruck einer weiteren Fähigkeit des Kindes, und das ist die starke Vorstellungskraft, die Imaginationsfähigkeit des Kindes. Das Kind ist Weltmeister in der Fähigkeit zu geistiger Flexibilität; es ist einfach von einer Grundbereitschaft getragen, neu zu denken und neu zu sehen. Begierig ist das Kind, Neues zu sehen, Neues zu erleben, und damit hat das Kind eine Fähigkeit, mit der es den Erwachsenen einfach haushoch überlegen ist: die Fähigkeit zu lernen, die Fähigkeit, sich zu verändern, die Fähigkeit zu antworten auf das, was es erlebt, und aus dieser enormen Fähigkeit heraus entwickelt das Kind die Fähigkeit zum Eigensinn. 2. Besonderer Weltzugang des Kindes Worin liegt dieser besondere Weltzugang des Kindes begründet? Zunächst ist dieser Weltzugang des Kindes durch eine Grunddisposition charakterisiert, die das Kind den Erwachsenen ganz voraus hat, und das ist die Grunddisposition der Unvoreingenommenheit. Das Kind begegnet der Welt in seiner grenzenlosen Grundoffenheit und Vorbehaltlosigkeit und lässt die Welt einfach auf sich wirken. Darin ist es den Erwachsenen so sehr überlegen, dass man sagen kann, dass das Kind schlichtweg einen privilegierten Zugang zur Welt hat. Das Kindsein ist insofern schon nicht etwa lediglich als Vorstufe des Erwachsenseins zu fassen, denn das Kind ist eben in vielerlei Hinsicht schlichtweg weiter als die Erwachsenen und gerade nicht deren defiziente Vorstufe. Mit dieser Über diese Frage nach dem Eigentlichen des Kindseins hat man viel weniger nachgedacht als über die Frage nach den Kinderrechten, gehören doch beide Fragen untrennbar zusammen, ja mehr noch, fundiert doch die Erstgenannte Letztere. Was also macht das Kindsein aus? Vielleicht mag es ganz instruktiv sein, sich vorzustellen, es gäbe ein Mittel, mit dem man das Stadium des Kindseins zu überspringen vermöchte, um so mit seinem Leben gleich als Erwachsener starten zu können, ohne sozusagen Zeit für das Kindsein zu verlieren. Die allermeisten Menschen würden einem solchen Ansinnen wohl eher nicht folgen wollen, und genau das sagt schon sehr viel aus über das Kindsein und auch darüber, was das Kindsein genau nicht ist. Lange Zeit hat man das Kindsein damit zu definieren versucht, dass man es als eine Vorstufe des Erwachsenseins betrachtet hat oder gar als dessen Vorbereitungsstadium. Das Kindsein also als vorübergehendes Durchgangsstadium, das linear in das definitive Erwachsenenstadium übergeht; diese Konzeption erschien vielen Menschen als plausibel. Unser Gedankenexperiment macht jedoch deutlich, dass ein solches Konzept das Kindsein nicht adäquat erfasst, denn wäre das Kindsein einfach nur eine Vorstufe zur eigentlichen – erwachsenen – Stufe, so müsste es als erstrebenswert erscheinen, gleich mit der Erwachsensein-Stufe zu starten. Da dies aber so weitestgehend nicht mehr gesehen wird, spricht vieles dafür, das Kindsein gerade nicht nur als die Stufe des unvollständigen Erwachsenseins und damit als eigentlich defiziente Stufe zu sehen, sondern als eine Lebensphase von intrinsischem Wert. Das Kindsein wäre demnach eben keine Vorstufe, sondern eine eigene Stufe und damit eine in sich wertvolle Lebensphase. Was das Kindsein eigentlich ist, dem soll im Folgenden nun in fünf Schritten nachgegangen werden. 1. Besondere Fähigkeiten des Kindes Wenn wir von der Kindheit als einer ureigenen Lebensphase und von dem Kind als einer Person aus eigenem Recht sprechen, so unterstellen wir innerhalb dieses Konzeptes des Kindseins automatisch, dass das Kind eben nicht nur ein Noch-Nicht-Könner ist – wie dies der Fall wäre, fassten wir das Kind als defiziente Vorstufe des Erwachsenen –, sondern etwas in sich Wertvolles. Mit dem Kind wird etwas Spezifisches verbunden und damit zuallererst ein spezifisches Können, spezifische Fähigkeiten. Was also kann das Kind in besonderer Weise? Diese Frage führt uns zu dem ersten Spezifikum des Kindes. Zunächst einmal ist es die Vitalität des Anfangs, die das Kind auszeichnet; es ist seine innere Lebendigkeit, die das Kind zunächst einmal ausmacht, und immer mehr zeigt sich, dass es den Erwachsenen so Bild: Gonxhe, 6 Jahre
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