03 / 2025 THEMENHEFTTEIL: 30 JAHRE KIS KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 23 PROF. DR. MED. OSKAR JENNI CO-LEITER ABTEILUNG ENTWICKLUNGSPÄDIATRIE, UNIVERSITÄTS- KINDERSPITAL ZÜRICH Korrespondenzadresse: oskar.jenni@kispi.uzh.ch Nachwuchsmangel, steigender Druck, neue Technologien: Die kinderärztliche Praxis steht im Umbruch. Was braucht es, damit sie auch in der Zukunft ein Ort bleibt, der Kinder und Familien begleitet und ihnen Halt bietet? Der Artikel zeigt, dass Beziehungen und Kontinuität heute wichtiger denn je sind. Ein Blick in die Zukunft der Praxispädiatrie Was also bleibt von der Praxispädiatrie, wenn sich alles rundherum verändert? Wird es in 30 Jahren überhaupt noch kinderärztliche Praxen geben, die die Kinder und Jugendlichen kennen, die Familien begleiten und die eine Kontinuität bieten? Oder werden digitale Systeme, spezialisierte Zentren und neue Berufsgruppen jene Aufgaben übernehmen, die einst zur Kernaufgabe der Grundversorgung gehörten? Wagen wir einen Blick nach vorn: Was braucht es, damit die Praxispädiatrie auch in Zukunft ein Ort bleibt, der Kindern und ihren Familien Halt bietet – inmitten einer Welt, die sich immer schneller verändert? Doch bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir den Rahmen weiter spannen. Denn die Praxispädiatrie ist Teil eines grösseren Systems – und dieses System steht selbst vor einem grundlegenden Umbruch. Die Medizin der Zukunft wird anders aussehen als heute: digitaler, datengetriebener, personalisierter, aber auch stärker von gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen geprägt. Vier grosse Entwicklungen zeichnen sich dabei schon jetzt ab, und sie werden die medizinische Grundversorgung der kommenden Jahrzehnte entscheidend prägen. Die Zukunft der medizinischen Grundversorgung – vier tiefgreifende Veränderungen 1. Digitalisierung und künstliche Intelligenz werden die medizinische Praxis grundlegend verändern. Konsultationen werden in Zukunft zunehmend virtuell stattfinden – unterstützt durch digitale Patient:innenportale, Gesundheits-Apps und tragbare Sensoren, die kontinuierlich Daten erfassen. Die künstliche Intelligenz wird dabei eine zentrale Rolle spielen: Sie kann Anamnesen erheben, Symptome analysieren und auf dieser Grundlage konkrete Therapieoptionen vorschlagen. In bestimmten Bereichen – etwa bei der Auswertung von Bild- oder Sprachdaten – wird sie der ärztlichen Beurteilung überlegen sein. Gleichzeitig wird sich auch das Verhalten der Menschen ganz generell verändern: Viele werden KI- Systeme als ständige Begleiter nutzen, die rund um die Uhr verfügbar sind, unkompliziert Auskunft geben und erste Einschätzungen ermöglichen – ohne Wartezeit und vor dem ersten Ärzt:innenkontakt. Die Welt im Wandel – und die pädiatrische Praxis mittendrin Es ist, als würde die Welt aus den Fugen geraten: Klimakrise, technologische Umbrüche, geopolitische Spannungen, Kriege in Europa und im Nahen Osten. Vieles, was lange Zeit als sicher galt, gerät heute ins Wanken. Der gesellschaftliche Optimismus ist verschwunden. Die Zukunft erscheint nicht mehr hoffnungsvoll, sondern bedrohlich. Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht in diesem Zusammenhang von «Verlusteskalation»: Die Verluste, die das Leben mit sich bringen, lassen sich nicht länger durch Zuversicht ausgleichen. Stattdessen breitet sich Unsicherheit und Angst aus – in den Medien, in den politischen Diskussionen und ganz direkt spürbar im Alltag von Kindern und ihren Familien. Auch an der Schule gehen die Veränderungen nicht spurlos vorbei. Sie sieht sich mit einer Vielfalt von Bedürfnissen konfrontiert, steht unter grossem Erwartungsdruck und wird dabei selbst immer unsicherer: Was sollen Kinder lernen, wie viel sollen sie leisten müssen, und wie gehen wir mit jenen Kindern und Jugendlichen um, die aus dem Raster fallen? In dieser Atmosphäre der Verunsicherung steigt der Druck – vor allem auf die Kinder und Jugendlichen selbst. Die Eltern wollen, dass ihre Kinder «es einmal gut haben» – doch «gut» bedeutet heutzutage oft: leistungsfähig, angepasst, erfolgreich. Und genau das spüren die Kinderärzt:innen in der Praxis. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Entwicklungsauffälligkeiten, ADHS, Autismus, Schlafproblemen, chronischen Krankheiten, Erschöpfung, Schulabsentismus, Ängsten oder Depressionen steigt und steigt. Immer mehr Kinder sind überfordert, unruhig oder still verzweifelt. Gleichzeitig stehen die Praxen selbst unter Druck. Der administrative Aufwand wächst, Verordnungen werden hinterfragt, Rückmeldungen eingefordert, Formulare vervielfacht. Eltern und Schulen erwarten schnelle Antworten – und am besten gleich die perfekte Lösung. In vielen Regionen fehlt es zudem an Haus- und Kinderärzt:innen. Aus diesem Grund dominieren heute oftmals die akuten Erkrankungen den Praxisalltag, während für Beratung, Begleitung und Vorsorge immer weniger Zeit bleibt. Dabei wären gerade diese heute wichtiger denn je.
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