KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2025

THEMENHEFTTEIL: 30 JAHRE KIS 03 / 2025 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 12 DR. MED. RAFFAEL GUGGENHEIM FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN, MITGLIED REDAKTIONSKOMMISSION, KINDERARZTPRAXIS FRIESENBERG, ZÜRICH Korrespondenzadresse: dokter@bluewin.ch «Was soll aus der Pädiatrie werden?» Was man 1986 über die Pädiatrie in 40 Jahren dachte … Ein Rückblick und Ausblick derungen der damaligen pädiatrischen Bildungs- und Arbeitslandschaft notwendig sein würden. Dazu wollte er mit der von ihm geleiteten Studie eine Standortbestimmung erheben, um daraus Folgerungen zu ziehen und vielleicht auch einen Impetus zu der dringend notwendigen Veränderung zu geben. Man muss schon ein bisschen stöbern wollen, um den Artikel zu finden, den unser unvergesslicher Mentor Remo Largo 1986 in Helvetia Paediatrica Acta zum Thema «Der praktizierende Kinderarzt am Scheideweg?» veröffentlicht hat.1 Doch dank unserer historischen Spürnase Daniel Brandl ist uns das gelungen. Es war in den Jahren 1980–82, also noch vor Gründung des «Forums für Praxispädiatrie», als sich Remo Largo die Mühe genommen hat, zusammen mit 39 praktizierenden Kinderärzt:innen (damals noch ohne Gendering) aus der Region Zürich eine fundierte Studie durchzuführen. Sie umfasste die Datenerhebung zu den Themen Praxisorganisation, Besuchsgründe und Therapieformen in diesen Praxen. Im Vergleich zu anderen Studien dieser Zeit war die Datensammlung umfassend und die Auswertung akribisch. Largo hat es gemeinsam mit Kessler, Diethelm und Sutter geschafft darzustellen, wie praktizierende Kinderärzt:innen in der damaligen Zeit wirklich arbeiteten. Sie hatten eine Grundlage geschaffen, um aufgrund dieser Erkenntnisse und der Erfahrungen aus den USA und anderen Ländern eine Prognose über die Zukunft der Pädiatrie in der Schweiz zu wagen. Vor vierzig Jahren war vieles anders als heute. Die eigentliche Pädiatrie wurde an den Spitälern zelebriert. Wer nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft mithalten konnte oder wollte oder den damaligen Chefs nicht genehm war, der musste sich eine andere Existenzgrundlage schaffen: Grundversorgerpraxis in der Pädiatrie. Dazu gab es weder eine Ausbildung noch ein eigentliches Curriculum. Und noch schwieriger: Abnehmende Geburtenzahlen, eine höhere Ärzt:innendichte, dank Impfungen und Antibiotika auch weniger ernsthaft kranke Kinder und eine Konkurrenz durch Heilpädagog:innen, Früherzieher:innen und pädagogische Elternberatung verunsicherten die damaligen Kinderärzt:innen, den Schritt in eine unsichere Zukunft ausserhalb des Spitals zu wagen. In dieser etwas bedrückenden Situation sah Largo daher zwei Extremlösungen als Zukunft der Praxispädiatrie: Pädiater:innen würden nur noch mit einer Subspezialisierung (Kardiologie, Allergologie, Pneumologie – Entwicklungspädiatrie gab es damals noch nicht einmal bei ihm als Möglichkeit!) in konsiliarischer Funktion tätig sein oder aber die komplette Aufgabe der Pädiatrie in der Praxis und nur noch das Betreiben einer eigentlichen Spitalpädiatrie auf Basis einer allgemeinärztlichen Grundversorgung, vergleichbar mit dem HMO-Modell im Vereinigten Königreich und anderen Ländern. Natürlich erkannte Largo auch, dass es Zwischenlösungen geben könnte, wozu aber grundlegende VeränFoto: Wikimedia Commons Die grundlegenden Erkenntnisse der Studie waren die Bedeutung der eigentlichen Tätigkeitsbereiche in der Praxis: klinische Diagnostik, Präventionsmedizin und vor allem die Wichtigkeit des ärztlichen Gesprächs in der Praxis. Zur klinischen Diagnostik gehört die Bedeutsamkeit einzelner Bereiche als Konsultationsgrund wie ORL, Dermatologie, Pneumologie und Gastroenterologie. Aber bereits damals erkannte Largo die Relevanz der präventiv-medizinischen Massnahmen, Erziehungsberatung und des ärztlichen Gesprächs. Sie seien «gewissermassen das Herzstück der ambulanten Pädiatrie». Und wie er es weiter ausdrückte: «Offenbar erwarten die Eltern vom Kinderarzt mehr als nur medizinische Massnahmen.» Kinderärzt:innen sollen ein offenes Ohr haben für Fragen zu Entwicklung und Erziehung. Largo erkannte, dass Pädiater:innen hier ein grosses Vertrauenspotenzial in der Bevölkerung haben, welches auch höher ist als beispielsweise das in die Erziehungsberatung mit ihren psychologisch und pädagogisch geschulten Fachpersonen. In der Studie kam auch klar zum Ausdruck, dass die kinderärztliche Arbeit stark von aktuellen psychosozialen und sozio-ökonomischen Faktoren beeinflusst ist. Im Rahmen der detaillierten Besprechung der entsprechenden Krankheitsmuster musste ich schmunzeln, wenn Largo etwa über das «Non mangia bene»-Syndrom italienisch- und spanischstämmiger Familien sprach. Aber Largo erkannte und betonte auch die klaren Grenzen der damaligen kinderärztlichen Versorgung: Es gab kaum Erfahrung im Umgang mit Jugendlichen, und die Auseinandersetzung mit adoleszentem Verhalten und Sexualität fehlte komplett.

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