01 / 2025 DAS GUTE KINDERBUCH FÜR DIE PRAXIS KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 43 MATTHIAS FERRETTI MITGLIED REDAKTIONSKOMMISSION, WINTERTHUR Korrespondenzadresse: m.ferretti@hin.ch Vom Mut des ersten Fisches, der das Wasser verlässt Anne Hoffmann Auf den ersten Blick ist das Jugendbuch von Anne Hoffmann eine Spukgeschichte. Aber eigentlich geht es um die Probleme aus dem echten Leben. Bei Felix ist es die Einsamkeit und vor allem das Vermächtnis seiner Mutter. Diese ist bei Emmas Geburt gestorben, sodass Felix als Ersatzmama bei der Erziehung seiner Schwester einspringen muss. Anne Hoffmann webt in die Geschichte immer wieder beiläufig schwierige Themen ein. Es geht um die schwerwiegenden Bürden, die manche Menschen durch ihr Leben tragen – und das mit einer grossen Leichtigkeit und ohne den Anflug von Melancholie. Bei Felix ist dies die schleichende Parentifizierung. Pflichtbewusst übernimmt er Verantwortung für Emma, weil der Vater als Krankenpfleger ständig weg ist. Das macht ihn automatisch zu einem reifen, viel zu früh erwachsen gewordenen Jugendlichen und damit für seine Altersgenossen sehr suspekt. Dass Felix grossartiges Freundschaftsmaterial ist, merkt das Mädchen mit den türkisen Haaren, von deren Namen er nur den Anfangsbuchstaben kennt, als sie ihn ängstlich nachts aus der Villa Theodora anruft. Die zwei Aussenseiter Felix und L. spielen nicht automatisch im gleichen Team, aber nach und nach lernen sie sich besser kennen. Das gegenseitige Vertrauen entsteht durch ihre gemeinsamen Abenteuer automatisch, denn natürlich macht sich Felix sofort auf, um L. in der Villa Theodora beizustehen, auch wenn sie ihn in jedem zweiten Satz beleidigt. Und auch das ist eine Stärke in dem Buch von Anne Hoffmann: Sie trifft den richtigen Ton. Die Dialoge und Wortgefechte ihrer Figuren wirken authentisch. Sie verwendet kluge Gedankenanstösse, keine Poesiealbum-Sprüche. Anne Hoffmanns Buch bietet viele Identifikationsmöglichkeiten für eine breite Leserschaft. Neben Parentifizierung geht es um Scheitern, Trauern, Homosexualität, Flashbacks, Gaslighting, chronische Schmerzen, Liebe und Mobbing. Anne Hoffmann gelingt es, nicht in den Kitsch abzurutschen. Statt eines klassischen Happy Ends gibt es berechtigte Hoffnung: «Ich habe lange gekämpft, um an dieser fremden Küste atmen zu lernen. Aber jetzt bin ich hier. Und jetzt geht es weiter.» ■ «Ich will Freunde haben, nur irgendwie will niemand mich!» In dieser Geschichte wird nicht lange drum herumgeredet, schliesslich weiss es jeder: Es gibt die Klassenlieblinge, dann die, die im Dunstkreis der «Coolen» herumstehen, und es gibt Felix: irgendwie uncool. «Ich bin ein Blobfisch!», sagt Felix. Blobfische sind diese Tiefseekreaturen, um die sich, wenn sie an Land gespült werden, die Leute versammeln und fragen: «Was zum Teufel ist das?» Der Blobfisch gilt als eines der hässlichsten Tiere der Welt, denn sobald er das Meer verlässt, läuft er auseinander wie ein bemitleidenswerter Klumpen Wachs. «Mich hat zwar noch niemand direkt gefragt, was zum Teufel ich bin, doch es würde mich nicht wundern, wenn die meisten Leute in meiner Klasse schon kurz davor waren!» Felix hat grosses Nerd-Wissen über Pflanzen, Tiere und Reptilien auf Lager. Er möchte zwar aus der Gruppe der Nichtbeachteten heraustreten und dazugehören, aber auf direktem Wege klappt das nicht. Durch einen Zufall an Halloween stehen er und seine kleine Schwester Emma vor einem verlassenen Haus, der Villa Theodora, in der es angeblich spukt. Emma hat eine Kiste dabei, die paranormale Energien hörbar machen soll, und auf diese «Spiritbox» ist eine Gruppe von Felix’ Klassenkameraden «scharf», die auch vor dem alten Haus herumlungern. Sie wollen den richtigen Moment abpassen, um in das alte Haus einzusteigen. «Was für ein pseudowissenschaftlicher Bullshit», denkt Felix, aber er will das natürlich nicht laut aussprechen. Mia, seine Klassenkameradin, scheint seine Zurückhaltung zu bemerken und aus heiterem Himmel fragt sie ihn: «Willst du mitkommen?» Ihr Angebot schockiert Felix, und nicht nur ihn. Felix’ Sehnsucht dazuzugehören ist gross genug, um sich auf das Abenteuer einzulassen. Als Felix todesmutig auf den Dachboden der Spuk-Villa steigt, entdeckt er dort ein Mädchen mit türkis gefärbten Haaren, das panisch den Finger an die Lippen hebt. Sie ist kein Geist, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut und sie braucht ausgerechnet ihn als Komplizen, um nicht entdeckt zu werden. Illustration: Magellan Verlag Verlag: Magellan Verlag Publikationsjahr: 2024 ISBN: 978-3-7348-5082-0 Anzahl Seiten: 240 Altersempfehlung: ab 14 Jahre Ein Coming-of-Age-Roman für junge Erwachsene Bild: Magellan Verlag
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