KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 2/2024

ERFAHRUNGSBERICHT 02 / 2024 KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 50 Die zwei Tage Fortbildung in wenigen Worten zusammenzufassen, stellt sich als grosse Herausforderung dar. Zunächst ging es darum, was ADHS/ADS überhaupt ist und wie wir es diagnostizieren können: ein bisschen zu viel (Bewegungsdrang, Impulsivität, Unruhe) und/oder ein bisschen zu wenig (Aufmerksamkeit, Konzentrationsspanne, Frustrationstoleranz). Bei milder Ausprägung vielleicht noch als «lebendiges Kind» oder «Träumerli» zu klassifizieren, bei stärkerer Ausprägung ein echtes Handicap («stört», «nervt», «bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück») und für so manche Eltern eine Riesenherausforderung. Fragebögen für Eltern, Lehrpersonen und das Kind selbst, Konzentrationstests und Leistungsabklärungen helfen uns, die Diagnose zu stellen. Genetisch bedingte Botenstoffungleichgewichte und verzögerte Reifungsprozesse im Gehirn sorgen für eine Filterschwäche: Eindrücke kommen gleichwertig und unsortiert im Gehirn an – welche Leistung muss es sein, das Wichtige herauszufinden! Umgekehrt genauso: Von innen will genauso ungefiltert alles heraus – wie soll man so abwarten können, bis man dran ist oder darüber nachdenken, dass der Sprung vom Scheunendach vielleicht doch keine gute Idee ist? Zu versuchen, die eigenen Impulse zu kontrollieren, ist unglaublich anstrengend, oft frustrierend und teils unmöglich. Die Kinder geben sich alle Mühe, trotzdem klappt es oft nicht. Dies führt zu schlechtem Selbstwertgefühl, ungeeigneten Selbstregulierungsversuchen und Traurigkeit. Kein Wunder finden wir bei ADHS/ADS in ca. 2/3 der Fälle Komorbiditäten mit anderen Krankheiten, wie zum Beispiel Ängsten, Zwängen, Tics, Depression oder Suchterkrankungen, aber auch Adipositas oder Migräne, um nur einige zu nennen. Umgekehrt gilt es beim Auftreten von diesen Erkrankungen herauszufinden, ob nicht ein ADHS/ ADS als Differenzialdiagnose dahintersteckt. ASS kommt oft in Gesellschaft mit ADHS/ADS vor, wahrscheinlich weil ähnliche Ursachen verantwortlich sind. DR. MED. ANNETTE EYBEN FACHÄRZTIN FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN FMH, FACHÄRZTIN FÜR ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN FMH, WINTERTHUR Korrespondenzadresse: a.eyben@hin.ch Im April fand im frühlingssonnigen Männedorf ein absolut empfehlenswerter Kurs von Kinderärzte Schweiz zum Thema ADHS und ADS statt. An dieser Stelle als Erstes ein ganz herzliches Dankeschön an die herausragenden Referierenden und das engagierte Organisationsteam! ADHS-Kurs für Praxispädiater:innen: Basics, Therapien und Coaching 11./12. April 2024 Der zweite grosse Themenblock beschäftigte sich mit dem Umgang und der Behandlung von ADHS/ADS. Letztlich gibt es drei Säulen, auf denen die Behandlung fusst. Erstens sind eine gute Psychoedukation der Eltern und näheren Bezugspersonen sowie schulische/pädagogische Massnahmen zu nennen, die von Verständnis aufbringen, über einen ruhigen Platz suchen bis zu Nachteilsausgleich oder integrativer Förderung gehen. Zweitens kann therapeutisch viel bewirkt werden, z.B. mit Ergo-, Logo- oder Psychotherapie. Drittens können ADHS/ADSler:innen von Medikamenten, Lerncoaching und neuropsychologischem Training profitieren. Alle diese Massnahmen haben das Ziel, den Leidensdruck durch das Ermöglichen von Erfolgserlebnissen und persönlichen Erfolgen (Selbstwirksamkeit) zu vermindern. Die medikamentöse Behandlung und das Lernen zu Hause haben wir im Kurs sehr explizit angeschaut und konnten viele gute Tipps mit in die Praxis nehmen. Das ADHS/ADS wächst sich in 1/3 der Fälle aus, 1/3 der Betroffenen haben im Erwachsenenalter deutlich mildere Symptome und 1/3 sind später gleich stark betroffen wie als Kinder und Jugendliche. Diese Personen profitieren im Erwachsenenalter ebenso von den obgenannten Unterstützungsmassnahmen wie die Kinder. Dazu kommt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass man als ADHS/ ADSler:in ein ADHS/ADS-Kind hat, relativ hoch ist, was eine geeignete Behandlung umso notwendiger macht. Zum Schluss möchte ich aber auch darauf hinweisen, dass ADHS/ADSler:innen auch sehr häufig viele positive Eigenschaften haben: Sie sind oft sehr empathisch und hilfsbereit, spontan und aufgestellt, kreativ und entdeckungsfreudig, sehen ungewöhnliche Lösungswege, haben viel Energie oder ruhen in sich, sind tolle Sportler oder auch Musiker. Die Eltern dieser Kinder und Jugendlichen sind keine Erziehungsversager und sie entstammen nicht «dysfunktionalen Familien», die Begleitung erfordert oft mehr Ausdauer und Energie, der Alltag ist manchmal chaotischer und der Erziehungsstil authentischer («Ich flipp jetzt gleich aus»), aber wie alle Eltern wollen sie das Beste für ihr Kind, egal ob sie selbst ADHS/ADS haben oder nicht. Unsere Aufgabe ist es, sie darin zu unterstützen. ■ Take-Home-Messages ■ Der/die ADHS/ADSler:in will nicht nicht, er/sie kann oft nicht. ■ Die Komorbiditäten entsprechen den Differenzialdiagnosen (Was war zuerst, das Huhn oder das Ei?). ■ Die 3 Säulen der Unterstützung: Eltern/Schule, therapeutisch und medizinisch. Fotos: Peter Hunkeler

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