02 / 2024 FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 37 Akute Leukämien Die akute lymphatische Leukämie In der Schweiz erkranken jährlich etwa 60–70 Kinder und Jugendliche an einer ALL. Diese kann bei Diagnose anhand von Zelltyp, genetischen Veränderungen und anderen biologischen Merkmalen in verschiedene Subgruppen unterteilt werden. Der häufigste zelluläre Subtyp ist die unreife B-Zell-Leukämie, seltener sind unreife T-Zellen Ursprung des malignen Klons. Des Weiteren unterscheidet man verschiedene molekulare Subtypen2, die wiederum zusammen mit dem Ansprechen auf die Therapie die Einteilung in Standard- und Hochrisikogruppen ermöglichen. Diese Einteilungen sind wichtig, um der enormen Heterogenität dieser Erkrankung Rechnung zu tragen und individualisierte Behandlungsansätze zu entwickeln. Die klinischen Symptome einer Leukämie im Kindesalter können vielfältig sein und erklären sich durch die Verdrängung der gesunden Blutzellen im Knochenmark durch unreife Blasten. Häufige Anzeichen umfassen anhaltende Müdigkeit, blasse Haut, auffällige Blutergüsse oder Blutungen, unerklärlicher Gewichtsverlust, anhaltende Infektionen und Fieber. Etwa 3/4 der erkrankten Personen haben bei Diagnose eine klinisch erkennbare Vergrösserung der Lymphknoten, Leber und/oder Milz. Etwa 1/3 der Patient:innen klagen über Knochen- und Gelenkschmerzen, die durch die Knocheninfiltration bedingt sind. Diese kann vor allem bei Kleinkindern bis zur Gehverweigerung führen. Nicht selten kommt es in diesem Zusammenhang zu Fehldiagnosen, wie Osteomyelitis, Verstauchungen, Coxitis fugax und Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis. Leukämien können sich auch als onkologische Notfälle präsentieren. Bei respiratorischen Symptomen muss an eine mediastinale Raumforderung gedacht werden, die vor allem bei der TALL zu einer Kompression der oberen Luftwege und der Vena cava superior führen kann. Seltener sind neurologiDR. MED. URSULA TANRIVER FACHÄRZTIN FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN FMH, OBERÄRZTIN PÄDIATRISCHE ONKOLOGIE/ HÄMATOLOGIE, UNIVERSITÄTSKINDERSPITAL BEIDER BASEL (UKBB), BASEL PROF. DR. MED. NICOLAS VON DER WEID FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN FMH, SCHWERPUNKT PÄDIATRISCHE ONKOLOGIE- HÄMATOLOGIE, STV. CHEFARZT PÄDIATRIE, ABTEILUNGSLEITER PÄDIATRISCHE ONKOLOGIE/ HÄMATOLOGIE, UNIVERSITÄTSKINDERSPITAL BEIDER BASEL (UKBB), BASEL Korrespondenzadresse: ursula.tanriver@ukbb.ch Leukämien sind bösartige Erkrankungen des blutbildenden Systems, bei denen es zu einer unkontrollierten Vermehrung unreifer Blutzellen, auch Blasten genannt, kommt. Sie besitzen unterschiedliche zelluläre und genetische Eigenschaften. Nach der Ursprungszelle unterteilt man sie in lymphatische und myeloische Leukämien. Die Inzidenz von Leukämien liegt in der Schweiz bei 4,85 Fällen pro 100000 Kinder und Jugendliche pro Jahr und macht damit etwa ein Drittel aller Krebserkrankungen im Kindesalter aus1. Die akute lymphoblastische Leukämie (ALL) ist die am häufigsten diagnostizierte Form und macht etwa 80–85% der akuten Leukämien im Kindesalter aus. Die akute myeloische Leukämie (AML) tritt bei etwa 15–20% der betroffenen Kinder auf. In den vergangenen fünf Jahrzehnten wurden bedeutende Fortschritte bei der Diagnose und Behandlung von Leukämien im Kindesalter erzielt: Nach nur 30% Heilungen in den späten 1960er-Jahren sind mittlerweile 85–90% der Kinder selbst nach 10 Jahren noch in erster Remission der ALL, bei der AML liegen die Zahlen etwas niedriger, zwischen 65 und 80%. Die Forschung auf diesem Gebiet konzentriert sich weiterhin darauf, die Ursachen zu verstehen, innovative Therapieansätze zu entwickeln und die Langzeitfolgen der Behandlung zu minimieren. Leukämien im Kindes- und Jugendalter Fortschritte der letzten Jahrzehnte sche Zeichen wie Kopfschmerzen oder Meningismus, die auf eine Mitbeteiligung des Zentralnervensystems (ZNS) hinweisen können. Zur Diagnostik zählen neben einer sorgfältigen Anamnese und klinischen Untersuchung die Bestimmung eines grossen Blutbildes, einschliesslich Differentialblutbild und mikroskopischem Ausstrich. Der klassische Laborbefund ist die mono-, bi- oder trilineäre Zytopenie mit Nachweis von Blasten im Ausstrich. Hierbei muss beachtet werden, dass etwa 6% sich als sogenannte aleukämische Verlaufsformen (also ohne sichtbare Blasten im Blut) präsentieren. Die Diagnose sollte stets durch die Knochenmarkpunktion gesichert werden. Neben der mikroskopischen Beurteilung der Morphologie werden die Oberflächenproteine und intrazellulären Proteine mithilfe der Durchflusszytometrie analysiert. Ebenso erfolgt die Untersuchung der Zyto- und Molekulargenetik der malignen Zellen2. Zusätzlich wird der Liquor zum Ausschluss einer ZNS-Beteiligung analysiert. Bildgebende Verfahren wie die Röntgenaufnahme des Thorax zur Ausschlussdiagnose einer mediastinalen Raumforderung und eine Sonografie des Abdomens werden ebenfalls im Rahmen der Initialdiagnostik durchgeführt. Neben der Risikostratifizierung anhand zellulärer und molekularer Marker spielt auch das Ansprechen auf die Therapie eine entscheidende Rolle für die Prognose3. Die Standardmethode zur Bewertung des therapeutischen Ansprechens ist die Zytomorphologie durch Mikroskopie, die weit verbreitet und schnell verfügbar ist. Ihr Hauptnachteil liegt in der geringen Sensitivität, die bestenfalls die Identifizierung von 1 malignen unter 100 Zellen ermöglicht. Nach diesen Diagnosekriterien erreichen 95– 98% der Patienten mit ALL innerhalb von 4 Wochen eine vollständige Remission. Aufgrund der geringen Sensitivität bleiben hierbei Patienten mit wenig verbliebenen
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