KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 2/2024

02 / 2024 FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 33 Pathophysiologie Im Kindesalter handelt es sich fast immer um eine primäre ITP, die sekundäre ITP ist selten, nimmt aber mit zunehmendem Alter zu, im Erwachsenenalter erreicht sie 18–38%. Die Pathophysiologie der ITP ist ausserordentlich komplex, wie es das Immunsystem selbst auch ist. Man kann nicht davon ausgehen, dass es «die ITP» gibt, sondern muss sich bewusst sein, dass sich hinter dem Begriff eine faszinierende Vielfalt von pathophysiologischen Mechanismen verbirgt. Um das Krankheitsbild noch komplexer erscheinen zu lassen, kommt – wie für Autoimmunkrankheiten typisch – die Dimension Zeit dazu. Die Krankheit weist eine erstaunliche Dynamik auf, sodass eine ITP am Tag X ihr Bild durchaus anders erscheinen lassen kann als am Tag Y. Diese Eigenschaft der ITP ist einer der Gründe, weshalb Patienten auf dasselbe Medikament zu verschiedenen Zeitpunkten verschieden reagieren können und warum eine individuelle Prognose so schwierig erscheint. Man geht davon aus, dass im Kindesalter eine Infekt-assoziierte Ursache häufig ist und Kreuzreaktionen mit viralen und thrombozytären Antigenen auftreten. Diese Pathophysiologie ist wahrscheinlich dafür verantwortlich, dass im Kindesalter bis zu 80% der Patienten eine selbstlimitierende Krankheit haben, d. h. dass der Verlauf unabhängig davon ist, ob die Patienten behandelt werden oder nicht. Die anderen 20% der Kinder zeigen einen chronischen Verlauf, der dem von erwachsenen Patienten ähnlich ist. Diagnose und Differentialdiagnose Die Diagnose der ITP basiert auf anamnestischen Angaben (Zeitpunkt der Blutungssymptomatik, typischerweise mit Petechien, Hämatomen und nicht selten Schleimhautblutungen und sehr selten lebensbedrohliche Blutungen). Im Kindesalter kann eine vorangehende, oft virale Infektionskrankheit in etwa zwei Dritteln der Patienten beobachtet werden, die sich Tage bis Wochen vor Ausbruch der Blutungen ereignet hat. Ob eine Infektion am Ausbruch einer ITP ursächlich beteiligt ist, kann individuell nicht gezeigt werden. Die Familienanamnese ist bezüglich Blutungskrankheiten unauffällig. Hinzu kommt das Symptom Müdigkeit, das bei erwachsenen Patienten als ein für die ITP typisches Symptom anerkannt und messbar ist. Beim Kind scheint sie ebenfalls vorzukommen, ist aber schwieriger zu messen. Sie zeigt sich oft bei tiefen Thrombozytenwerten und wird auch von Patienten mit Thrombozytopenien anderer Ursache als die ITP berichtet. Der Körperstatus ist bis auf die Blutungen unauffällig und das Blutbild zeigt eine Thrombozytopenie (<100×109/L) mit normalen Werten aller anderen Zellreihen, inklusive einem von einem Hämatologen als unauffällig befundeten Blutausstrich. Ansonsten werden keine weiteren Tests empfohlen. Entgegen den Leitlinien werden häufig zusätzlich ein Coombstest (Differentialdiagnose Evans-Syndrom) und eine Analyse der Immunglobuline (Differentialdiagnose angeborene Immundefekte) gemacht. Bei abweichenden Resultaten der oben beschriebenen Diagnostik sind erhöhte Aufmerksamkeit und starker Zweifel an der Diagnose «primäre ITP» berechtigt. Die Differentialdiagnose der ITP ist gross und reicht von Pseudothrombozytopenie bis zu angeborenen Thrombozytopenien, angeborenen Immundefekten und Malignomen (Grace RF and Lambert M. Blood 2022). Sie konfrontiert den Kliniker oft mit Stress, da bei Erstdiagnose keine weiteren Tests durchgeführt werden oder Resultate noch nicht vorhanden sind und kein «beweisender» Test für die ITP zur Verfügung steht. Altersgruppen (Kleinkind, Schulkind, Jugendliche, AYAs) Traditionell wird die ITP aufgrund der Pathophysiologie, der klinischen Charakteristika und der Prognose in Kinder-ITP (mehrheitlich eine selbstlimitierende Krankheit) und Erwachsenen-ITP (mehrheitlich chronische ITP) unterschieden. Je höher das Alter, desto gefährlicher werden Blutungen und desto mehr muss mit Komorbidität, Medikamenten und zunehmender «Schwäche» des Immunsystems mit zunehmenden Autoimmunphänomenen, Infektions- und malignen Krankheiten gerechnet werden. Allerdings kommt bei Kindern die chronische ITP ebenso vor wie die selbstlimitierende ITP bei Erwachsenen. Wie bei anderen Disziplinen werden zunehmend eigenständige Altersgruppen definiert. So erscheint die Einteilung in Kinder- und Erwachsenen-ITP nicht mehr adäquat. Zumindest muss an eine «vergessene» Gruppe erinnert werden: die Adoleszenten und jungen Erwachsenen (Adolescents and Young Adults, AYAs). Diese Altersgruppe wird zunehmend als eigenständig wahrgenommen und ist mit für sie typischen Bedürfnissen und klinischen Unterschieden im Vergleich zu den anderen Altersgruppen gekennzeichnet (Schifferli A. et al. Haematologica 2023 und Br. J. Hematol. 2023). AYAs fallen «zwischen Stühle und Bänke» und sind weder in der Pädiatrie noch in der Erwachsenenmedizin adäquat berücksichtigt und bedürfen einer auf sie zugeschnittenen Medizin. Prävention und Therapie Die folgenden Therapien werden bei Kindern angewendet (Tabelle 3): 1. Watch & Wait, d. h. keine medikamentöse Therapie, Abwarten des Verlaufes. 2. Erstlinien- oder Standardtherapien (orale Kortikosteroide und intravenöse Immunglobuline, IVIG). 3. Zweitlinientherapien (Thrombopoietinrezeptor-Agonisten, TPO-RAs). Rituximab und Fostamatinib gehören beim Erwachsenen auch zu dieser Kategorie, nicht aber bei Kindern.

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