KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2024

01 / 2024 FORTBILDUNG: THEMENHEFTTEIL KINDERÄRZTE. SCHWEIZ 15 Hustenmittel, Beruhigungs- und Schlafmittel (unter anderem Benzodiazepine), Stimulanzien und Narkosemittel. Häufig findet der Missbrauch von Medikamenten im Rahmen eines multiplen Substanzkonsums statt. So berichtet auch Tox Info Schweiz 20212 über vermehrte Anfragen zu missbräuchlichem Konsum von Benzodiazepinen bei Jugendlichen innerhalb der letzten 5 Jahre. Missbräuchlicher Substanzkonsum versus Abhängigkeit Die WHO unterscheidet im ICD-103 zwischen Missbrauch und Abhängigkeit von Substanzen. Als Abhängigkeit wird eine Gruppe körperlicher, kognitiver und Verhaltensprobleme beschrieben, bei denen der Konsum einer Substanz oder Substanzklasse für die betroffene Person Vorrang hat gegenüber anderen Verhaltensweisen, die von ihr früher höher bewertet wurden. Wichtige Merkmale sind hier vor allem auch der Wirkverlust, also eine Toleranzentwicklung zur Substanz, Dosissteigerung, Entzugssymptomatik sowie verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Menge und/oder der Beendigung der Einnahme. Biologische, psychosoziale und soziale Faktoren spielen bei der Entwicklung der verschiedenen Stadien und Ausprägungen einer Abhängigkeit eine wichtige Rolle (Bilke- Hentsch, 2019). Ein schädlicher Gebrauch wird diagnostiziert, wenn der Substanzkonsum zu nachweisbaren körperlichen oder psychischen Schädigungen geführt hat, jedoch kein Abhängigkeitssyndrom vorliegt (Dilling et al., 2015). Risikofaktoren, frühe Zeichen Für die Prognose der Suchterkrankung sind ein Einstieg im frühen Lebensalter sowie ein rasch intensivierter Konsum wichtige Prädiktoren. Der Übergang zum problematischen Konsum erfolgt oft schleichend. Daher ist es besonders wichtig, bei der Einschätzung auf widersprüchliche Angaben (Abstinenzphasen, Konsummengen etc.) der Jugendlichen zu achten und die Informationen über mehrere Zeitpunkte hinweg zu erfassen. Auch ist es sinnvoll, bei der Anamnese auf Bezugspersonen im näheren Umfeld zurückzugreifen, da der Konsum gelegentlich bagatellisiert wird, und zusätzlich sollten objektive Masse wie Laborwerte (zum Beispiel Leberwerte) oder Urinproben auf Drogen miteinbezogen werden. Da Eltern über den Konsum ihrer Kinder oft wenig informiert sind und Beziehungsmuster innerhalb belasteter Familiensysteme teilweise bereits dysfunktional sind, zeigt sich der Konsum selten, oder er wird versteckt. Auch ein Wechsel in andere Peergruppen, in welchen Konsumverhalten bereits fester Bestandteil ist, kann ein Hinweis auf einen Konsum sein. Zudem sind auch Beobachtungen von Lehrer:innen, Freund:innen, Trainer:innen etc. für die Einschätzung der Gefährdungen sehr wichtig (Tini & Bilke-Hentsch, 2020). Psychische Komorbiditäten wie Traumafolgestörungen, Bindungsstörungen aller Arten, ADHS, depressive und Angststörungen, sowie Persönlichkeitsstörungen und psychotische Störungen gehen häufig mit einem Substanzkonsum einher, weshalb diese ebenfalls mitbeachtet werden sollten. Häufig stehen bei suchterkrankten oder konsumierenden Jugendlichen akute soziale, schulische oder medizinische Probleme im Vordergrund, die bewältigt werden müssen. Der Konsum von psychoaktiven Substanzen wird in diesen Fällen häufig als Copingstrategie eingesetzt, wobei aufgrund der Wirkung häufig Cannabis sowie Benzodiazepine und andere dämpfende Medikamente eingesetzt werden. Zudem wurde festgestellt, dass Jugendliche Medikamente (unabhängig von der Bezugsquelle) im Vergleich zu illegalen Drogen als sicherer und reiner wahrnehmen und sich folglich in einer (falschen) Sicherheit wiegen (Infodrog, 20224). Was kann ich als Pädiater:in tun? Als Präventionsansätze gelten sicherlich die Erfragung möglicher Substanzeinnahmen, die Bereitstellung von Informationen zur Psychoedukation, Sensibilisierung für Risiken und der Verweis an geeignete Anlaufstellen (siehe allgemeine Informationen und Links zu Suchtthemen auf Seiten 30–31). Zudem ist mit den Jugendlichen eine offene Kommunikation (meist in Abwesenheit der Bezugspersonen) anzustreben. Es sollten eine vertrauensvolle Atmosphäre geschaffen und Unterstellungen vermieden werden. Im Umgang mit Jugendlichen mit einer potenziellen Suchterkrankung / Konsumverhalten sind Empathie wichtig sowie eine wohlwollende, akzeptierende Haltung bei gleichzeitigem Anstoss zu Veränderung. Die Jugendlichen benötigen funktionale Bewältigungsmuster, welche die Selbstwirksamkeit und Selbstregulation fördern. Sachliche und objektive Informationen zu einzelnen Substanzen, die Gefährlichkeit von Wechselwirkungen mit anderen Substanzen Take-Home-Message ■ Substanzkonsum in einer offenen, wohlwollenden Atmosphäre (bevorzugt in Abwesenheit der Bezugsperson) ansprechen ist wichtig. ■ 4-K-Regel beim Verschreiben von Medikamenten beachten: Klare Indikation, kleinste Dosis, kurze Anwendung, kein sofortiges Absetzen. ■ Unterstützung des/der Betroffenen und des Systems mit zusätzlicher Vermittlung von Hilfsangeboten und Informationsmaterial (Seiten 30–31) ist wichtig.

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