KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 4/2022

04 / 2022 JAHRESTAGUNG K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 25 Thomas Girsberger, Kinderpsychiater mit Spezialgebiet (Asperger) Autismus, und Marleen Grosheintz führten uns mit ihrer grossen Erfahrung gekonnt durch die Vielfalt der Autismus-Symptomatik und deren Früherkennung. Das Spektrum der ASS ist äusserst breitgefächert: von kaum zu erkennen, da oft mit zunehmendem Alter gut kaschiert beim «Autismus pure», bis zu schwerster Behinderung beim «Autismus plus», wie beim frühkindlichen Autismus, der früh auffällig wird (Sprach- und allgemeiner Entwicklungsrückstand, Verhaltensauffälligkeiten). Übergänge zum ADHS (bei ASS-Diagnose 50% auch ADHS Diagnose positiv, bei ADHS 20% Komorbidität mit ASS) und zur Hochsensibilität (nur einige Merkmale des ASS vorhanden) sind fliessend. Die Plus-Symptomatik (ADHS, motorische Koordinationsprobleme, Sprach-EWR, Lernstörungen, Epilepsie, IQ-Minderung) ist verantwortlich für die Probleme im Leben und damit auch die Therapiebedürftigkeit. Auffälligkeiten beim frühkindlichen Autismus: kein oder schlechter Blickkontakt schon früh, repetitive Bewegungsmuster, keine joint attention, Sprach-EWR. M-CHAT mit 18 Monaten gibt klare Hinweise. Auch das Buch «Grüne und rote Klingel» für Kinder zwischen 0 und 3 Jahren bietet Diagnosehilfen. Autismus pure (Asperger): meist erst ab Kindergarteneintritt auffällig, deutliche Diskrepanz zwischen avancierter intellektueller und retardierter sozio-emotionaler Entwicklung. Diese Kinder verweigern im Verlauf häufig den Schulbesuch, da der Unterricht überhaupt nicht den (oft speziellen) Interessen des Kindes entspricht. Die Diagnosestellung erfolgt heute meist durch aufwändige Untersuchungsprotokolle, welche zwar die von den Schulen für die Gewährung von Fördermassnahmen geforderte Diagnose stellen, aber wenig über die Funktionsdefizite aussagen. Diese lassen sich besser mit dem ICF (International Classification of Functioning) beschreiben und damit auch der Unterstützungsbedarf festlegen. Wegen des Abklärungsaufwandes und der gesteigerten Aufmerksamkeit für ASS (da müssen wir unser normatives Denken bei der Zuweisung von Verdachtsfällen auch REFERENT: DR. MED. THOMAS GIRSBERGER Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie FMH, in eigener Praxis, Liestal REFERENTIN/ MODERATION: MED. PRACT. MARLEEN GROSHEINTZ Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Praxispädiaterin in Landquart AUTOR: DR. MED. CHRISTIAN KNOLL Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin FMH, Kinderpraxis-Seeland, Biel Korrespondenzadresse: chknoll@hin.ch Workshop Ärztinnen und Ärzte 1: Autismus Bedeutung der Früherkennung und frühen Förderung hinterfragen…) sind Wartezeiten von bis zu zwei Jahren keine Seltenheit. Schneller würde es mit der in den USA bereits etablierten Screening-Methode des «eye- tracking» gehen. Hiermit können Kinder ab 6 Monaten in Reihenuntersuchungen (sic!) schnell und hochsignifikant auf ASS getestet und die Auffälligen dann genauer untersucht werden. 80% von Kindern mit ASS sind männlich, bei 66% ist es das erste betroffene Kind der Familie, bei 10% sind mehr als ein Kind der Familie betroffen, häufiger bei Migrantenfamilien. Therapeutisch steht beim frühkindlichen Autismus die Betreuung durch den Früherziehungsdienst im Vordergrund, je nach Verlauf dann die inklusive Schulung mit heilpädagogischer Unterstützung oder eine heilpädagogische Schule. Bei den häufigen Schulproblemen der High-function- Autisten werden meist zu viele Ressourcen vergeudet, indem versucht wird, diese Kinder zu «integrieren», d. h. «normal» zu machen und nicht der Fokus darauf gelegt wird, durch Inklusion ihren individuellen Besonderheiten gerecht zu werden und sie nicht ins starre Korsett des allgemeinen Schulangebots zu zwängen. Sie als «Autodidakten» («ich lerne, was mich interessiert und vertiefe mich darin») machen zu lassen, führt meist eher zum Ziel. Dies gelingt leider häufig nur in teuren Privatschulen oder beim Home-Schooling; die wünschenswerte Hybrid-Schulung wird noch nicht genug angeboten. Unterstützungsangebote für Eltern sind leider auch eher dünn gesät. Durch Learning by Doing wissen sie meist am besten, wie mit ihren Kindern umzugehen ist. Eine Hilfestellung ist das Buch von Thomas Girsberger «Mit Autismus den Alltag meistern» mit Rezepten, Gebrauchsanweisungen und Werkzeugen. Mehr Infos auch auf www.autismus.ch und https://autismushilfe.ch Wozu ist Autismus überhaupt gut? Es ist eine genetische Variante, die Sinn macht für die Entstehung von Spezialistentum… in unseren Reihen sicher auch nicht selten anzutreffen. ■

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx