KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 4/2022

JAHRESTAGUNG 04 / 2022 K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 22 Als Kinderärztinnen sind wir in unserer täglichen Praxistätigkeit immer wieder mit chronisch kranken Kindern und Jugendlichen konfrontiert. In seinem Vortrag ging der Hauptreferent der diesjährigen Jahrestagung, Prof. Dr. Andreas Meyer-Heim, der Chefarzt der Kinder-Reha Schweiz in Affoltern am Albis, auf eine sehr interessante und lebendige Art auf die Komplexität derer Besonderheiten ein. Wann liegt eine Behinderung vor? Was sind aber eigentlich die Merkmale einer Behinderung? Definitionsgemäss ist dabei: ■ eine kausale Therapie oder Heilung nicht möglich (bzw. nur teilweise), ■ eine Minderung der Leistungsfähigkeit mit Auswirkungen auf den Schul- bzw. Arbeitsbereich, ■ spezielle Anforderungen an die Familie und das soziale Umfeld, ■ eine Bedrohung der Lebensperspektive und der sozialen Integration, sowie ■ eine Normabweichung, Auffälligkeit oder eine Gefahr der Diskriminierung gegeben. Oder auch anders gesagt: «Eine Behinderung liegt vor, wenn ein Mensch mit einer Schädigung oder Leistungsminderung ungenügend in sein vielschichtiges MenschUmfeld-System integriert ist.» (Alfred Sanders) Die häufigsten Ursachen für körperliche Behinderung im Kindes- und Jugendalter (angeboren/erworben) sind: ■ eine Schädigung des zentralen Nervensystems, darunter Cerebralparese (2/1.000), Schweres Schädel-HirnTrauma (ca. 12/100.000) und Spina bifida (1/1.000) ■ eine Schädigung des Skelettsystems, z. B. Osteogenesis imperfecta (1/10.000) ■ neuromuskuläre Erkrankungen, wie Spinale Muskelatrophie (1/10.000) oder Muskeldystrophie Duchenne (1/3.300). Wichtig ist eine Zusammenarbeit und ein Zusammenführen aller Puzzleteile: ■ des Patienten und seiner Familie ■ den oft komplexen und vielschichtigen Diagnosen ■ Verordnen von Hilfsmitteln ■ Interaktion mit Schulen bzw. heilpädagogischen Einrichtungen ■ Verordnen von Therapien ■ Kispex ■ Verordnen und überwachen der Medikation ■ Angebot an Unterstützungs- und Entlastungsprogrammen ■ Fungieren als Advokatin (ob gewollt oder nicht) ■ Transition von Jugendlichen ■ Vermittlung in der Versicherungsmedizin (v. a. IV) usw. (die Liste ist nicht abschliessend). REFERENT: PROF. DR. MED. ANDREAS MEYER-HEIM Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Chefarzt Kinder-Reha Schweiz, Universitäts-Kinderspital Zürich, Affoltern am Albis EINFÜHRUNG: DR. MED. CAMILLA CEPPI COZZIO Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin FMH, Vorstandsmitglied Kinderärzte Schweiz, Leiterin Arbeitsgruppe Jahrestagung, Zürich AUTORIN: DR. MED. ANGELIKA BROIDL Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin FMH, Kinderärzte am Untertor, Bülach Korrespondenzadresse: angelika.broidl@live.de Hauptreferat Schnittstellen in der kinderärztlich-(hoch)spezialisierten Betreuung von Kindern und Jugendlichenmit chronischen Krankheiten und Behinderungen Am Beispiel der Cerebralparese (oder «cerebral palsy») wird deutlich, wie viele Schnittstellen sich in der Betreuung ergeben. Da CP der häufigste Grund für motorische Störungen im Kindesalter ist und 90% der betroffenen Kinder das Erwachsenenalter erreichen, bedeutet dies, dass der Patient lebenslänglich eine medizinische «Betreuung» benötigt. Die CP beschreibt eine Gruppe von Krankheitsbildern, welche zu einer Störung von Bewegung, Haltung und motorischer Funktion führen, die permanent, jedoch nicht unveränderlich sind, die ständig einer Anpassung und Überwachung bedürfen. Ausserdem gibt es viele Komorbiditäten, die mit einer CP assoziiert sind, wie z. B.: ■ Epilepsie ■ Entwicklung/Kognition/Lernstörungen ■ ophthalmologische/visuelle Probleme ■ Gehörprobleme ■ Sprach- und Kommunikationsstörungen ■ Schluckstörungen/Drooling (Speicheln) ■ Wachstumsstörungen ■ Pubertät (praecox bzw. tarda) ■ Sekundäre orthopädische Komplikationen (Gehverschlechterung im Rahmen des Wachstums, Skoliosen, Hüftluxationen, Handfehlstellungen). Dabei ist es wichtig, die Hilfsmittel an die Meilensteine der kindlichen Entwicklung anzupassen. Ebenso wichtig ist es, eventuelle bauliche Massnahmen zu veranlassen (Badumbau, Treppenlifte, Autositze), die Ergotherapie beizuziehen und v. a. die IV zu beantragen. Die CP stellt mit 80% den höchsten Anteil an Hilflosenentschädigung von Kindern und Jugendlichen durch die IV dar! Bei der Rollstuhlversorgung ist v. a. eine enge Kooperation zwischen Rollstuhltechnikerin, Ergotherapeut und Eltern/Kind erforderlich. Auch der Orthesenversorgung sowie der Logopädie (wichtig: früher Start) kommt eine wichtige Bedeutung zu. FAZIT: Prof. Meyer-Heim zeigte uns ganz deutlich auf, wie viele verschiedenste Puzzleteile sich aus chronischen Erkrankungen bzw. Behinderungen ergeben, die einer genauen Koordination sowie einer ständigen Anpassung bedürfen, um Kinder und Jugendliche mitsamt ihren Familien bestmöglich lebenslänglich zu betreuen und zu begleiten. Hierbei sind ohne Frage wir als Kinderärztinnen gefragt! ■

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