KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 3/2022

35 K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 03 / 2022 KOMMENTAR : THEMENHEFTTE I L Oftmals in meiner pädiatrischen und kinderchirurgischen Aus- und Weiterbildung habe ich mich gefragt, ob wir unsere Medizin wirklich auch «für die Kinder» machen, also nicht nur, um die physische Gesundheit der Kinder zu verbessern, sondern auch, um die Kinder selbst dabei nicht zu ängstigen, zu verletzen oder gar zu schädigen. Bis heute bleibt bei mir dieses ungute Gefühl, meine Stellung als «rettender Arzt» auszunutzen, wenn ich schmerzhaft impfen muss. Und desgleichen im Spital, wenn ich im Rahmen von diversen Abklärungen Blutentnahmen durchführen soll oder Therapien, welche gemäss Vorgaben auch gemacht werden müssen. Bin nicht auch ich dem Gebot des Kinderschutzes unterstellt und gilt nicht auch hier das Gebot des «primum nil nocere»? Verstecken wir Ärzte und Ärztinnen diese Gedanken nicht allzu oft unter dem Mantel des «medizinisch Notwendigen»? Werden nicht einfach Schemata durchgeführt, ohne dass wir ganz ernsthaft Nutzen und Schaden oder einfach nur die Belastung des Kinds abwägen? Natürlich ist es im Falle einer auch potenziellen Sepsis oder gefährlichen Situation notwendig, die entsprechenden Massnahmen – auch wenn sie unangenehm sein sollten – durchzuführen. Aber ist jede Commotio eine gefährliche Situation? Braucht jedes etwas schwerer atmende Neugeborene wirklich ein CPAP? Und wie lange? Wann sind abrechnungstechnische Vorgaben des Spitals oder die «gesamtschweizerischen Richtlinien» höhergestellt als der gesunde Menschenverstand und das Wohl des Kindes? Ich konnte erfreulicherweise in meinen Pädiaterjahren in vielen Bereichen eine deutliche Verbesserung «für das Kind» erleben und möchte diese am Beispiel der Abklärung und Therapie des VUR zeigen – in der Hoffnung, dass dieses Prinzip der «child friendly medicine» auch in weiteren Bereichen zu kinderfreundlichen Anpassungen führen wird. Aus den Zeiten meiner kinderchirurgischen Ausbildung erinnere ich mich gut daran, dass Kinder mit einem febrilen HWI rasch und in jedem Fall eine ausgedehnte uroradiologische Abklärung erhielten – diese umfasste, neben der heute noch gängigen Sonografie und MCUG, auch ein IVP – nicht selten auch eine Szintigrafie. Beim kleinsten Nachweis eines VUR wurde auch gerade eine Operationsindikation gestellt und wehe, wenn die Eltern dazu kritisch eingestellt waren… Neben der eigentlichen – aus heutiger Sicht meist sinnlosen – Operation bedeutete dies auch längere Hospitalisation, Schmerzen, bleibende Narben und – wer weiss – auch Spätfolgen, die wir noch nicht absehen konnten. Natürlich war die Motivation durchaus medizinisch gut gedacht: Verhinderung auch asymptomatischer rezidivierender Harnwegsinfekte mit Schädigung des Nierenparenchyms bis hin zur Niereninsuffizienz im jungen Erwachsenenalter. Welche Eltern würden bei einem solchen Bedrohungsszenario nicht in eine Operation einwilligen? Aber wurden nicht von Anfang an Birnen mit Äpfeln verglichen und jeder Reflux als unwiderruflicher Beginn einer Niereninsuffizienz gesehen? So wie wir das heute ja auch wissen! Ich kann mich gut an die damaligen Mahnworte des leitenden Radiologen erinnern: «Zeigt diese Bilder (eines VUR Grad I – II) ja nicht den Chirurgen, die werden das sofort operieren!» Also war dem Kader bereits bewusst, dass hier kinderunfreundliche, ja schädigende Medizin betrieben wurde – wir als junge Assistierende waren noch zu stark dem System unterworfen, um uns eine klare Meinung bilden und diese auch vertreten zu können. Damals wie auch heute gilt eben immer noch vielerorts die «êBM» mit Krönchen – die Eminence Based Medicine – anstelle der einfachen EBM – der Evidence Based Medicine. Gottseidank hat die Durchsetzung der Letzteren doch zu einer deutlichen Verbesserung der Situation, einer besseren Abwägung und einem zurückhaltenderen Vorgehen geführt. Und während ich bis heute die UCN nach Politano-Leadbetter im Schlaf durchführen könnte, werden dies heutige kinderchirurgische Assistierende doch mit etwas mehr Konzentration durchführen müssen, da sie diese – auch wegen besserer, einfacherer und kinderfreundlicherer Operationstechniken – kaum mehr machen müssen. Aber meine Mahnworte bleiben weiterhin gültig – noch immer wird vieles in Spital und Praxis gemacht, «weil wir es so gewohnt sind». Gerade an unseren Ausbildungsorten – also den Kinderspitälern, Neonatologien und Weiterbildungspraxen besteht Handlungsbedarf. Vieles wurde verbessert – Angst und Schmerzen sind ein Thema, integrative Ansätze werden eingebunden, unnötige Medikationen und Therapien werden eliminiert oder angepasst (wie zum Beispiel von Choosing Wisely), doch noch ist viel zu tun, um eine flächendeckende Wahrnehmung einer «child friendly medicine» als Grundlage pädiatrischen Denkens und Handelns in Spital und Praxis umzusetzen. CPAP Continous Positive Air Pressure Beatmung êBM Eminence Based Medicine (mit Krönchen) EBM Evidence Based Medicine HWI Harnwegsinfekt IVP Intravenöse Pyelografie MCUG Miktionscystoureterografie UCN Uretero-Cysto-Neostomie VUR Vesikoureteraler Reflux (es gibt 4 Schweregrade, heute wird nur noch Grad IV bei entsprechender Klinik operiert) ■ DR. MED. RAFFAEL GUGGENHEIM FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN FMH, MITGLIED REDAKTIONSKOMMISSION, ZÜRICH Korrespondenzadresse: dokter@bluewin.ch «Child friendly medicine» – am Beispiel der Entwicklung von Refluxplastiken

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