38 REDAKT IONELLE SE I TEN 01 / 2022 K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 1979 konnte ich ein Praktikum in einem Kinderspital in Florida absolvieren. Dabei fielen mir auch die dort gebräuchlichen Latex-Nuggis auf, und in den Kaufhäusern fanden sich Schnuller mit Comicfiguren. Ich begann damals, Nuggis zu sammeln und meine Sammlung erweiterte sich im Lauf der letzten 40 Jahre während Reisen auf alle Kontinente und durch Mitbringsel von Freunden und Patienteneltern auf weit über 200 Exemplare. Nuggis sind aufgrund ihrer Machart und Bestimmung kurzlebig und ich möchte meine wohl einzigartige Sammlung mit Mitgliedern von Kinderärzte Schweiz teilen. Ein Nuggi oder Schnuller (Amerik. pacifier = Beruhiger!) imitiert mit seiner Form die mütterliche Mamille und hat den Zweck, das Saugbedürfnis des Säuglings zwischen den Mahlzeiten zu befriedigen und ihn damit zu beruhigen. Die wohl erste Form dieses «Beruhigers» bestand in einem in den Mund des Kindes gesteckten Finger der Mutter oder dem eigenen Daumen des älteren Säuglings. Die Anfänge des Nuggis beginnen vor rund 5000 Jahren. Archäologen fanden kleine Tongefässe in Form von Tieren (Hirsche, Frösche, Pferde) mit Mundöffnungen, durch die der Säugling Honig saugen konnte. Soranus von Ephesus (2. Jh.) beschreibt, wie mit Honig bestrichene Objekte zur Beruhigung von Säuglingen angewendet wurden. In der medizinischen Literatur findet sich die erste Erwähnung eines Schnullers (leider ohne Details) 1473 bei Bartholomäus Mellinger in seinem «Kinderbüchlein». Im England des 17.–19. Jahrhundert galten Korallen als Schutz vor bösen Geistern, Hexerei und Epilepsie. Goldschmiede kreierten Rasseln mit einem eingefassten Korallenstift, auf den der Säugling beissen oder, wenn mit Honig bestrichen, zur Beruhigung saugen konnte (Abb. 1). Dies konnte sich nur eine reiche Oberschicht leisten, also Kinder, die «mit einem goldenen Löffel im Mund» geboren wurden. Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert waren in Europa und Nordamerika hauptsächlich «Zuckerlutscher» oder «Lutschbeutel» im Gebrauch. Sie bestanden aus einem Stück Leinenstoff, auf den ein Löffel Zucker oder Honig gegeben wurde und welches dann zu einer Kugel geformt in den Mund des Säuglings gesteckt wurde. Der Speichel löste dann den Zucker auf. Diese Füllung konnte aber auch aus Brot, vorgekautem Trockenfleisch, Früchten oder «Laudanum», einer Opiumtinktur, bestehen (Abb. 2). Dass diese Gepflogenheit für die Zahnentwicklung und die Gesundheit der Säuglinge katastrophale Folgen hatte, lässt sich leicht erahnen. Um 1900 kam das von Gummibäumen gewonnene Latex in Gebrauch und der amerikanische Apotheker Christian Meinecke patentierte 1900 seinen «baby comforter» aus Latex. (Abb. 3), welcher erstmals die Form des heutigen Nuggis aufnahm. Latexnuggis kamen sehr schnell in Mode und bestanden aus schwarzem, braunem oder weissem Gummi. Um den Gummi geschmeidig zu machen, waren aber toxische Chemikalien notwendig (z. B. Blei) und Latex konnte Allergien auslösen. Zudem kann Latex zur Sterilisation nicht wiederholt ausgekocht werden und zersetzt sich rasch. Heutige Nuggis bestehen in der Regel aus Silikon, das chemisch weitgehend inert ist. Gegen den Gebrauch von Schnullern kamen bald Widerstände auf, insbesondere seitens der Zahnärzte, die zunehmend Kieferdeformitäten als Folge des Nuggilutschens feststellten. Auch Pädagogen fanden, dass das Schnullerlutschen ein Zeichen der Vernachlässigung sei und auf eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung hinweise. DR. MED. RETO GAMBON FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN FMH, THUSIS Korrespondenzadresse: reto.gambon@bluewin.ch Kleine Kulturgeschichte des «Nuggis» Abb. 1: Rassel mit eingefasstem Korallenstift (England (17–19. Jh.) Abb. 2: Lutschbeutel in einer Szene aus Wilhelm Buschs «Der Schnuller» (1865) Mein persönlicher «Nuggi»
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