32 FORTB I LDUNG 01 / 2022 K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ Wir alle haben es gelernt: Streptokokken Gruppe A sind keine harmlosen «Gesellen», welche eine einfache Angina oder in einigen Fällen einen Scharlach verursachen. Nein, sie können den ganzen Körper befallen: Gelenke, Nieren, Gehirn und ganz schlimm natürlich das Herz. Wer von uns kennt nicht die Jones-Kriterien für ein Rheumatisches Fieber, wie oft musste ich mich in meiner Zeit als klinischer Oberarzt mit dem PANDAS1 auseinandersetzen und mit welchem Argwohn wurden postinfektiöse Gelenkschmerzen beobachtet und Serologien angesetzt. Ja – und dann noch die postinfektiöse Glomerulonephritis, welche aber nur nach Streptokokken-Gruppe-A Hautbefall beobachtet wurde. Doch schon seit vielen Jahren wurde in den Ländern der 1. Welt eine deutliche Abnahme dieser postinfektiösen Symptome beobachtet2, das Rheumatische Fieber ist gar zu einer Seltenheit geworden. Nur mit der Antibiotikatherapie konnte dieser Rückgang nicht erklärt werden. Überhaupt stellte man fest, dass eine Angina tonsillaris auch ohne Antibiotika meist selbstheilend war, jedenfalls unbehandelt nicht zu vermehrten Abszessen führte oder – wie es mein Lehrer Ueli Lips so treffend ausdrückte – «eine unbehandelte Tonsillitis kein Letalfaktor der Menschheit ist» (er sagte dies über die Pneumonie). All diesen Beobachtungen zum Trotz wurde ein Antibiotikum bis vor Kurzem weiterhin fix bei jeder Angina mit Nachweis von StrepA verordnet und dies für eine lange Dauer von 10 Tagen. Auch wurden die Betroffenen isoliert und durften erst 24 Stunden nach Antibiotikabeginn wieder zur Schule. Unzählige Kinder mussten mit einem StrepA-Schnelltest getestet werden, um eine Infektion möglichst rasch zu diagnostizieren und zu behandeln. Doch 2019 kam es zur «Revolution». Eine gesamtschweizerische Arbeitsgruppe von Infektiologinnen, Haus- und Kinderärzten und HNO Spezialistinnen hat unter der Leitung von Philip Tarr die aktuellen Daten zusammengefasst und ein neues Vorgehen vorgeschlagen: klinische Untersuchung und Einteilung nach McIsaac-Score (1–5), Abstrich nur bei Score ≥3 und auch bei positivem Abstrich und entsprechender milder Klinik keine primäre Antibiotikagabe mehr, sondern ein zweizeitiges Vorgehen, so wie wir es bereits bei der Behandlung der Otitis media acuta simplex kennen. Natürlich gibt es Situationen, in welchen Antibiotika frühzeitig gegeben werden, aber alles in allem – ein Schritt in die (medikamentös gesehen) richtige Richtung. Wie immer in der Schweiz, brauchte es dann noch längere Zeit, bis alle Fachgruppen, d.h. ORL, Pädiatrie und Infektiologie ihr Einverständnis für diese sinnvolle Anpassung gaben – doch nun ist es so weit, wie im Update 2021 im Primary and Hospital Care3 berichtet wird: Umsetzung dieser Richtlinien für Kinder und Erwachsene – und dazu noch: kein Schulausschluss nach Streptokokken-Angina. Dies gemäss den Vorgaben der Vereinigung der Kantonsärzte4. So zeigt sich also, dass nicht nur ein Umdenken, sondern auch ein Um-Handeln möglich ist. Erfreulich ist, dass Philip Tarr für dieses Umdenken nicht nur Spezialisten, sondern auch die Praktiker involviert und diesen sogar einen Platz auf der Mitautorenliste eingeräumt hat. Für mich ein eindrückliches Beispiel für gut gemachte und auch umgesetzte Kooperation von Klinik- und Praxisforschung! PS: Für diejenigen, welche es noch nicht wissen: Auch für Varizellen gibt es keinen Schulausschluss mehr!4 ■ LITERATUR 1 Pediatric Autoimmune Neuropsychiatric Disorder with Association to StrepA infection 2 Hofmann Y, Berger H, Wingeier B, Huber B, Boggian K, HugBatschelet H, et al. Behandlung der Streptokokken-Angina. Swiss Med Forum. 2019 Jul 17;19(2930):481–8. 3 Behandlung der Streptokokken-Angina ohne Antibiotika, Primary and Hospital Care 2021;21(11):360ff 4 https://www.vks-amcs.ch/fileadmin/docs/public/vks/ Schulausschluss__def_20200505_d.pdf DR. MED. RAFFAEL GUGGENHEIM MITGLIED REDAKTIONSKOMMISSION, ZÜRICH Korrespondenzadresse: dokter@bluewin.ch Und sie dreht sich doch… Über erstaunliche Paradigmenwechsel im pädiatrischen Alltag: Behandlung der Streptokokken-Angina ohne Antibiotika FORTBILDUNG Akutes Halsweh Schnelltest erwägen Kein Schnelltest 363 Mclsaac- oder Centor-Score Patientin/Patient mit Halsweh: folgende Symptome zusammenzählen: - Tonsillen Rötung+ Beläge: 1 Punkt Fieber >38 Grad: 1 Punkt Kein Husten, kein Schnupfen: 1 Punkt (Schmerzhafte) zervikale Lymphadenopathie: 1 Punkt Alter (nur in Mclsaac-Score enthalten): -3 bis 14 Jahre: 1 Punkt -15 bis 44 Jahre: 0 Punkte -45 oder mehr: -1 Punkt Kein oder verzögertes Penicillin/Amoxicillin* Keine Antibiotika* * Ausnahmen siehe Red Flags (Box 2) Abbildung 1: Diagnostik und Therapie bei akutem Halsweh. Modifiziert nach Ref. [5] Eltern und das erkrankte Kind einen beruhigenden Effekt haben, und er kann helfen, den Antibiotikagebrauch zu senken [6, 37-42]. Bei einem positiven Schnelltest sollte den Eltern und dem erkrankten Kind initial die antibiotikafreie, symptomorientierte Therapie angeboten werden, mit derMöglichkeit der unkomplizierten, verzögerten antibiotischen Therapie bei klinischer Verschlechterung [43, 44]. In viele Fällen schafft dies Vertrauen. Die Ärztin/der Arzt bietet eine Nachkontrolle nach 48-72 h an, je nach Verlauf, aber unabhängig vom Schnelltestresultat. In Zukunft, wenn Ärzteschaft und Bevölkerung mit der primär antibiotikafreien Therapie besser vertraut sind kann vermutlich noch häufiger auf den Abstrich verzichtet werden. Wie oft ist der Sch elltest falsch negativ? Der Schnelltest erfasst, besonders im Kindesalter, bei einer Sensitivität von 70-90% immerhin 10-30 von 100 Kindern nicht korrekt [42, 45], am ehesten wegen ungenügendem Abstreichen der Tonsillen, z.B. wegen Würgereiz. Zudem ist ein Rachenabstrich nur bei einem Centor/Mcisaac-Score von �3 indiziert, weil ein positivesResultat bei asymptomatischenPatientinnen und Patienten oder bei einem Centor/Mcisaac-Score von 0-2 sehr wahrscheinlich einem gesunden Streptokokkenträgertumentspricht [1]. Ihr empfiehlt routinemässigkeine Laboranalysen in der Abklärung von akutemHalsweh. Hat nicht ein tiefes CRP auch einen beruhigenden Effekt auf die Patientin/den Patienten? Dies ist ein zweischneidiges Schwert. Natürlich hat ein normales CRP (C-reaktives Protein) einen beruhigenPRIMARY AND HOSPITAL CARE -ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2021;21(11):360-367 den Effekt. Und leider führt ab und zu auch erst die Blutentnahme zum Gefühl, ernstgenommen zu werden und damit zur Akzeptanz einer antibiotikafreien Behandlung. Dieser unnötigen Medizinalisierung der meist benigne verlaufenden Streptokokkenangina sollte die erfahrene Ärztin/der erfahrene Arzt jedoch mit sorgfältigerklinischer Evaluation und guter Komunikation entgegenwirke . Denn CRP und Leukozytenwerte sind zwar bei bakteriellen tendenziell höher als bei viralen Infektionen, aber auch virale Infekte können zu erhöhtemCRP und zu Leukozytose führen; der diagnostische Nutzen dieser Werte ist somit besc ränkt. Zudem sind virale Hals-weh-ursachen viel häufiger als die Streptokokkenangina [46-49]. Soll ich bei einemnegativen Schnelltest nicht noch eine Kulturmachen? Nein, dies wird nicht mehr empfohlen. Diese Empfehlung stammt noch aus der Zeit, als die antibiotische Therapie in erster Linie zur Verhinderung des rheumatischen Fiebers eingesetzt wurde. Damals erhöhte man mit einer zusätzlichen Kultur nach nega ivem Abstrich die Sensitivität. Aber das rheumatische Fieber ist in unseren Breitengraden praktisch nicht mehr vorhanden und ausserdem kann bei einer positiven Kultur nicht zwischen Streptokokkenträgerinnen/ -trägem und Streptokokkenangina unterschied n werden. Der Zusatznutzen der Kultur wird in der Literatur als minimal bewertet [6, 15, 50]. Zude dauert es mindestens 24 Stunden, bis das Resultat der Kultur vorhanden ist - bei einem schwer kranken Kind oder bei Red Flags (siehe Box 2) würde die Ärztin/der Arzt Published under the copyright license "Attribution -Non-Commercial - NoDerivatives 4.0"". No commercial reus without permission. EMHMedia See: http://emh.ch/en/services/permissions.html Abbildung 1: Diagnostik und Therapie bei akutem Halsweh. Modifiziert nach Ref. [2] Quelle: Prim Hosp Care.2021;21(11):360-367, mit freundlicher Genehmigung von Philip Tarr und Primary and Hospital Care Red Flags Modifiziert nach [2]. ■ Patientin/Patient scheint schwer krank (klinischer Entscheid der erfahrenen Ärztin/ des erfahrenen Arztes). ■ Immunsuppression (z. B. Krebs, Chemotherapie). ■ Ungewöhnlicher Verlauf: Zunahme von Schmerzen, Unwohlsein, Schluckprobleme oder Fieber nach Erstkonsultation, Nicht-Besserung innert 4–7 Tagen. ■ Beschwerden oder Befund streng einseitig (möglicher Hinweis auf Komplikation wie PTA). ■ Berührung des Halses auf der Seite ist schmerzhaft (möglicher Hinweis auf Abszess). ■ Patientin/Patient kann nicht mehr schlucken, den Mund öffnen («Kieferklemme»). ■ Scharlach-Verdacht: roter Hautausschlag, «Erdbeerzunge», palpabler «Schmirgelpapier»- Aspekt der Haut* . ■ Akutes rheumatisches Fieber in der persönlichen Anamnese oder Familienanamnese. ■ Kleinkinder, Alter über 65 Jahre, signifikante Komorbiditäten. ■ Eventuell: Patientin/Patientin kürzlich aus einem Entwicklungsland immigriert** . * Scharlach stellt aktuell keine zwingende Antibiotikaindikation dar, aber eine klinische Evaluation zur Diagnosesicherung und zur Erkennung eines möglichen Ausbruchs ist indiziert. ** Als möglicher Hinweis auf ein erhöhtes Risiko für Kolonisation mit «rheumatogenen» Streptokokken-Stämmen.
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