KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2022

30 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L 01 / 2022 K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ 1. Ein Kind ohne Zähne nach dem 1. Geburtstag: Wenn Haare und Nägel normal sind, kann man zuwarten? Nicht angelegte Milchzähne («Nichtanlagen») sind in nicht-syndromalen Kindern ein seltenes Phänomen (0.1–0.5%), und die ersten durchbrechenden Milchzähne (zentrale untere Schneidezähne) sind fast nie davon betroffen (Daugaard-Jensen et al., 2009). Im Schweizer (und europäischen) Mittel brechen zwar die ersten Milchzähne im 7.–8. Lebensmonat durch, die Varianz ist jedoch gross und hängt auch vom ethnischen Hintergrund ab (Chaitany et al., 2018). Abweichungen von einem halben Jahr und mehr sind deshalb nicht besorgniserregend, und frühes oder spätes «Zahnen» ist mit dem Stand der allgemeinen Kindsentwicklung nicht direkt gekoppelt. Sollten die Seitenzähne vor den Frontzähnen durchbrechen, ist jedoch eine Abklärung nötig. 2. Zähneknirschen im Milchzahngebiss ist egal? Einige Kinder knirschen im Schlaf so laut, dass die Eltern darüber besorgt sind. Nächtliches Knirschen (Bruxismus) ist jedoch kein seltenes Phänomen und eine grosse Minderheit der Kinder ist davon betroffen (Manfredini et al., 2013). Viele Autoren postulieren, dass dieses Knirschen nicht nur harmlos ist, sondern während der Funktionsperiode der Milchdentition sogar ein günstiger Faktor ist für die Etablierung einer korrekten sagittalen Beziehung der Kiefer (Stöckli, 1994). 3. Ein «fehlender» Milchzahn ist egal? Milchzähne erfüllen nebst ihrer kau- und sprachfunktionellen Aufgaben auch die Rolle eines Platzhalters für den nachfolgenden bleibenden Zahn. Bei einem frühzeitigen Verlust eines Milchzahnes (sei es beispielsweise nach Trauma oder Karies) wandern oder kippen die Nachbarzähne in die Lücke, sodass Platzverlust und Asymmetrien im Zahnbogen die Folgen sind, die so gravierend sein können, dass später im Rahmen einer kieferorthopädischen Korrektur bleibende Zähne deswegen extrahiert werden müssen. PD DR. MED. DENT. RAPHAEL PATCAS, PhD FACHZAHNARZT FÜR KIEFERORTHOPÄDIE (CH), WISSENSCHAFTLICHER ABTEILUNGSLEITER, KLINIK FÜR KIEFERORTHOPÄDIE UND KINDERZAHNMEDIZIN, ZENTRUM FÜR ZAHNMEDIZIN, UNIVERSITÄT ZÜRICH Korrespondenzadresse: raphael.patcas@zzm.uzh.ch Mythen Gebissentwicklung 4. Zahnlücken sind im Milchgebiss egal? Rund 70% aller Kinder haben Lücken im Milchzahngebiss. Diese Lücken sind wünschenswert (also nicht «egal»), denn sie sind eine Voraussetzung, dass die viel grösseren bleibenden Frontzähne Platz haben (Proffit, 2018). Fehlende Lücken im Milchgebiss sind ein sicherer Garant, dass eine deutliche Engstandproblematik im bleibenden Gebiss resultieren wird. 5. Ein Milchzahn fällt irgendwann immer aus und muss nie extrahiert werden, um Platz zu machen für den bleibenden Zahn? Bricht im Rahmen des Zahnwechsels ein bleibender Zahn auch nur leicht ektop durch, wird die Milchzahnwurzel nicht oder nur ungenügend resorbiert, was zum Persistieren dieses Milchzahns führen kann. In solchen Fällen muss fast immer nachgeholfen und der Milchzahn extrahiert werden, damit der bleibende Nachfolgezahn Platz im Zahnbogen erhält. Weiter gibt es nicht selten das Phänomen, dass die Milchzahnwurzeln hartgewebig mit dem Alveolarknochen verwachsen. Ursache dieser sogenannten Zahnankylose können lokale mechanische oder entzündliche Schädigungen der Wurzeloberfläche sein wie auch hereditäre Störungen. Ankylosen stellen ein Durchbruchshemmnis für den Nachfolgezahn dar und können den Durchbruch verzögern, stören oder gar gänzlich hindern. Aus diesem Grund müssen ankylosierte Milchzähne nicht selten extrahiert werden (van Waes, 2001). Ein Milchzahn, der nicht beweglich ist (mit grosser Karies). Der bleibende Zahn ist im Durchbruch gehindert, da er zu weit aussen durchbricht und die gaumenseitige Wurzel des Milchzahnes nicht resorbiert hat. In solch einem Fall muss der Milchzahn extrahiert werden. Bilder: PD Dr. Dr. R. Patcas ✓ ✗ ✓ ✗ ✗

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