KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2022

26 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L 01 / 2022 K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ «Das haben wir schon immer so gemacht» – ist eine gute Entschuldigung dafür, sich nicht weiterentwickeln zu müssen. Ein Totschlagargument, um mögliche Veränderungen zu vermeiden oder von der eigenen Unwissenheit abzulenken. Gerade in der Medizin ein Begriff, den man nicht ernst nehmen kann. Ein bedeutendes Schlagwort heutzutage ist «lebenslanges Lernen». Wissen und Kompetenzen sind einem permanenten und teilweise sehr raschen Wandel unterworfen. Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen in der Pädiatrie behandeln Kinder ab Geburt bis ins Jugendalter. Es braucht eine grosse Anpassungsfähigkeit und Resilienz, mit diesem stetigen Wandel zurechtzukommen. Eine hohe Lernmotivation und Umsetzungsfähigkeit, um neue evidenzbasierte Erkenntnisse in die Behandlung einfliessen zu lassen. …und dennoch halten sich ein paar Gerüchte standhaft, wie zum Beispiel: «Der W-Sitz schadet der Hüfte» In der Entwicklung der Motorik beobachtet man verschiedene Varianten von Bewegungsmustern (Jenni O., 2021). Manche Kinder sitzen gerne im Zwischenfersensitz oder W-Sitz. Diese Position bietet den Kindern eine breite Unterstützungsfläche, sodass sie sich auf die feinmotorischen Fähigkeiten konzentrieren können. Kann der W-Sitz Hüftschäden nach sich ziehen? Besorgte Eltern, die ihr Kind häufig in dieser Position beobachten, sind unsicher und holen sich gerne Rat. Die Physiotherapeutin schaut sich folgende Punkte an: ■ Spontanes Sitzverhalten am Boden ■ Zustand der motorischen Entwicklung ■ Beweglichkeit der Hüft-, Knie- und Fussgelenke ■ Torsionen: Schenkelhals, Femur, Tibia ■ Beinlängen ■ Bewegungsübergänge vorhanden? ■ Wie ist die Bewegungsqualität? Bei einer Befundung beobachten wir das Kind in seinem spontanen motorischen Verhalten. Solange die Bewegungsqualität gut ist, Variationen in verschiedenen Sitzpositionen gezeigt werden und die Beinachsen in der Norm sind, braucht dieses Kind keine Physiotherapie. Die Eltern werden aber auf die obigen Punkte aufmerksam gemacht, sodass sie ihr Kind noch weiter beobachten. Mit der Zeit nimmt die Gelenkigkeit ab und somit auch die Häufigkeit der Sitzposition. Zeigt das Kind jedoch auffällige Bewegungsmuster, einen starken Einwärtsgang bei deutlich erhöhter femoraler Antetorsion, einen verminderten Haltetonus oder die Eltern berichten gar von vielen Stürzen, ist eine Überweisung zur Physiotherapie angebracht. FAZIT: Nicht jedes Kind, das gerne im Zwischenfersensitz verweilt, muss auch behandelt werden. «Das Kind soll erst sitzen, wenn es das alleine kann» Das Kind kann frei sitzen, wenn es sich selbstständig aufsetzt oder hinsetzt und selbstständig ohne Hilfe oder Stütze sitzt. Die meisten Kinder können mit ca. zehn Monaten alleine frei sitzen. Die Meinung, ein Baby nicht hinzusetzen, solange es das noch nicht selbst kann, ist aber überholt. Was spricht dagegen, ein Kind für kurze Zeit an den Mittagstisch zu setzen, im Kindersitz (oder stabilen Hochstuhl), gestützt mit Kissen? Das Kind nimmt am sozialen Leben der Familie teil und freut sich darüber. Danach legt man das Kind bäuchlings auf eine Decke auf den Boden und lässt es bewegen – ein guter Ausgleich zur Sitzposition von vorhin. CORNELIA NEUHAUS, MPTSc, PhD candidate CO-LEITERIN THERAPIEN UNIVERSITÄTS-KINDERSPITAL BEIDER BASEL Korrespondenzadresse: cornelia.neuhaus@ukbb.ch Mythen in der pädiatrischen Physiotherapie Bilder: © N. Frei, UKBB

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