KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2022

11 01 / 2022 BERUFSPOL I T I K K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ Rapporten und an Teamsitzungen teilnimmt sowie sich situativ und informell mit dem Praxisteam austauscht. Beratungen bei der Sozialarbeiterin werden wie medizinische Sprechstunden in die elektronische Agenda eingetragen. Fallbeispiel aus der Praxis Eine Mutter berichtet der Kinderärztin, dass sie aufgrund der Mehrfachbelastung durch Kinderbetreuung, Erwerbstätigkeit und Haushalt überlastet ist. Originäre physische oder psychische Beschwerden liegen nicht vor. Weiter berichtet sie der Ärztin von finanziellen Problemen und ungeöffneter Post. Die Ärztin empfiehlt ihr, bei der Sozialarbeiterin einen Termin zu vereinbaren. In der Sozialberatung stellt sich heraus, dass beide Elternteile noch nie ein Faible für die Verwaltung einer Haushaltskasse hatten. Spätestens als das zweite Kind zur Welt kam, sind ihnen diese Angelegenheit entglitten. Bei der Sozialarbeiterin erhält die Mutter das erste Mal eine Übersicht über offene Rechnungen und Mahnungen, laufende Verträge und den Inhalt der zuvor ungeöffneten Couverts. Bei dieser Auslegeordnung zeigt sich der Sozialarbeiterin rasch, dass die Familie Anrecht auf Prämienverbilligung sowie auf Familienmietzinsbeiträge hat, was dem Paar nicht bewusst war. Diese neue Erkenntnis sowie die Unterstützung durch die Sozialarbeiterin beim Stellen der Anträge führen zu einer ersten Erleichterung. Die Durchsicht der Unterlagen zeigt weiter, dass sich die Ausgaben der Familie an manchen Stellen optimieren lassen. Am zweiten, gerne in Anspruch genommenen Termin zeigt die Sozialarbeiterin, wie sich durch den Zugang zum Caritas-Markt und die Kündigung eines überteuerten Handy-Abos der Familie finanzielle Spielräume eröffnen können. Die Sozialberatung in der Arztpraxis stellt für die Familie eine niederschwellige und nicht stigmatisierende Anlaufstelle dar, an die sie sich bei Bedarf auch später wieder wenden kann. Informationen über weitere Projekte, Modelle und die Finanzierungsmöglichkeiten von sozialer Arbeit in und für Arztpraxen können auf der Webseite der Berner Fachhochschule abgerufen werden: www.bfh.ch/soziale-arbeit/arztpraxis ■ LITERATURVERZEICHNIS Guggisberg, Martina; Häni, Stephan; Berger, Lea (Hg.) (2016): Armut und materielle Entbehrung von Kindern. Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen (SILC) 2014. Schweiz. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik (BFS) (Statistik der Schweiz Fachbereich 20, Wirtschaftliche und soziale Situation der Bevölkerung). Hümbelin, Oliver; Richard, Tina; Schuwey, Claudia; Luchsinger, Larissa; Fluder, Robert (2021): Nichtbezug von bedarfsabhängigen Sozialleistungen im Kanton Basel-Stadt – Ausmass und Beweggründe. Bern. Jobst, Detmar; Joos, Stefanie (2014): Soziale Patientenanliegen – eine Erhebung in Hausarztpraxen. In: Z Allg Med 90 (12), S. 496–501. Pahud, Olivier (2019): Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung – Situation in der Schweiz und im internationalen Vergleich. Analyse des International Health Policy (IHP) Survey 2019 der amerikanischen Stiftung Commonwealth Fund im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Neuchâtel (Obsan Bericht, 15). SAMW (2020): Interprofessionelle Zusammenarbeit in der Gesundheitsversorgung: erfolgskritische Dimensionen und Fördermassnahmen. Differenzierung, Praxis und Implementierung. 2. Aufl. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Bern (15). Weber-Hallauer, Irene (2021): Soziale Arbeit in der Kinderarztpraxis. Masterarbeit. Alice Salomon Hochschule, Berlin & Coburg. Darf ich ehrlich sein? Ich bin schon etwas neidisch auf «Youkidoc». Gerne hätte auch ich eine Sozialarbeiterin in meiner Praxis. Als ich diese vor knapp dreissig Jahren startete, war ich gut ausgebildet für die Infektiologie und all die anderen Notfälle. Ich erinnere mich noch genau an die Kinder mit kritischen Erkrankungen wie Epiglottitis oder Meningitis, die mit der Ambulanz abgeholt wurden – was waren das für Zeiten und wie hat sich die Pädiatrielandschaft doch seither geändert! Ich erinnere mich lebhaft an den Satz meines Lehrers Remo Largo: «Wer sich in der Praxis nicht für psychosoziale Anliegen interessiert… wird dort nicht glücklich.» Viele Kollegen bringen heute einen gut gepackten Rucksack in Entwicklungspädiatrie mit in die Praxis und nehmen die Vorsorge und Beratungen ernst. Aber häufig stossen wir an unsere Grenzen. Die isolierten «1.-Welt»- Kleinstfamilien, die in Erschöpfungsdepressionen rutKD DR. MED. SEPP HOLTZ FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN, LEHRPRAXIS «KIND IM ZENTRUM», ZÜRICH Korrespondenzadresse: sepp.holtz@gmail.com Die Sozialarbeit gehört in die pädiatrische Praxis der Zukunft schen; die grösseren Familien aus manchmal anderen Kulturen, die an der Armutsgrenze nagen und an der Bürokratievielfalt scheitern; oder ein Gemisch von allem… Seit vielen Jahren delegiere ich Psychotherapie und bin sehr dankbar, für dieses (noch) niederschwellige Angebot IN der Praxis. Aber nicht selten diskutieren wir dabei mehr über sozialarbeiterische Aspekte als über Psychotherapie im engeren Sinn. Und wirklich ausgebildet sind wir nicht dafür und das kostet viel Zeit und Geld. Die Eltern könnten sich ja an die Sozialstellen in ihrer Umgebung wenden… dies tun sie aber nicht! Die Hemmschwelle, diese Angebote in Anspruch zu nehmen, ist viel zu gross. Die Sozialarbeit gehört in die pädiatrische Praxis der Zukunft. Leider. Gut ist da Bewegung hineingekommen. Bis die Finanzierung gesichert ist, wird es aber noch viel Lobbyarbeit brauchen! ■

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