34 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L 02 / 2021 K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ Sie sind die Eltern von Anaïs, 16 Jahre alt. Die Familie lebt seit 11 Jahren mit der Diabetesdiagnose des Mädchens. Die Sichtweise von Anaïs findet sich auf Seite 33. Die folgenden Fragen sind möglicherweise im Stress der Erstdiagnose eines Diabetes mellitus bei einem Kind oder einer Jugendlichen nicht die ersten, die gestellt werden. So viele medizinische Fakten müssen geklärt, so viel Verunsicherung aufgefangen, so viel handfestes Wissen für den Alltag vermittelt werden. Aus euren Antworten geht jedoch hervor, dass sie sehr wichtig sind und dass wir Pädiater in Praxis und Klinik gut daran tun, betroffene Familien engagiert und langfristig zu begleiten und entsprechende Angebote zu kennen (siehe Text und weitere Artikel im Heft). Vielen Dank, dass ihr beide euch neben eurer Arbeit, dem Familienalltag und den Artikeln für das vorliegende Heft noch die Zeit genommen habt für dieses Interview. Nadia Sauter Oes (NS): Was brauchen Eltern, wenn ihr Kind die Diagnose Diabetes mellitus bekommt? Was brauchen sie sofort, was im Verlauf? Martin: Von Anfang an Empathie, dass eine chronische Krankheit eben chronisch ist. Nicht nur die Ermutigung, dass die Patienten ein normales Leben führen können. Auch den Einbezug von Psychologen, wie im Artikel von Walukiewicz/Göschke (auf Seiten 28–29) beschrieben. Im Verlauf: Früh genug über Diabetes und Pubertät (Verdrängung/Verweigerung) reden können. Caroline: Vielen Eltern hilft es auch, wenn sie sehen, sie sind nicht die einzigen mit dem «Problem». Ein Austausch respektive ein früher Einbezug von ebenfalls betroffenen Eltern, Peer to Peer, wäre wichtig. Was hat/hätte euch genützt, was hat euch gefehlt? Martin: Genützt hat der Austausch mit anderen Familien. Wichtig ist die Information an Kindergärtnerin, Lehrerin, evtl. auch Pfadileiter oder Sporttrainer. Wenn das ein Angebot der Diabetes-Fachleute (nicht Ärzte) vom Spital sein kann, ist das sehr viel wert. Wir konnten das zum Teil in Anspruch nehmen. Caroline: Mir als Mutter hat gefehlt, dass man mir Verständnis/Anerkennung entgegengebracht hat für die «Trauer» nach der Diagnosestellung. Als Mutter/Eltern muss man sich von einem gesunden Kind verabschieden. Von einem sorglosen, unbeschwerten Alltag Abschied nehmen. Das war mir von Anfang an klar. Jeder Ausflug, jede Aktivität braucht von nun an Planung. Jede Autonomieentwicklung des Kindes ist mit Sorgen und Ängsten verbunden, mehr als bei einem gesunden Kind. Für wen war die Situation am schwierigsten? Für dich, Martin, der als Kinderarzt schon so viel wusste und sich deshalb mehr Sorgen machen konnte? Oder für dich, Caroline, als Nichtmedizinerin? Oder für eure Tochter? Martin: Technisch/medizinisch einfach, da ich das Thema gut kannte. Dadurch aber grad auch schwierig, um daheim als Vater/betroffener Begleiter die nichtmedizinische Seite besser verstehen zu können. Caroline: Definitiv für mich als Mutter. Da ich glaube, die Mütter sind in der Regel immer noch näher am Kind, begleiten sie mehr im Alltag, müssen mehr organisieren, umstellen. Sie sind in der Regel auch ängstlicher. Der Diabetes bedeutet eben auch viel mehr als eine rein medizinische Therapie. Heute haben wir uns gefunden. Können darüber reden und von den unterschiedlichen Sichten profitieren. Aber man muss als Paar schon fähig sein, aufeinander zuzugehen und den Willen haben, den anderen zu verstehen sowie von dessen Position zu lernen. Wie habt ihr eure Tochter erlebt in der ersten Zeit? Verunsichert, überfordert, neugierig, verschlossen? Welche Entwicklung habt ihr bei ihr beobachtet? Martin: Im Mittelpunkt zu stehen, war kurze Zeit spannend, dann gehörte der Diabetes einfach dazu, und durch die tägliche Kontrollsituation wurde er in der Pubertät immer nervender. So wurde sie Expertin im Vermeiden, im Vertuschen und Ignorieren. Caroline: Die Kindheit war für Anaïs unbeschwert. Das hat sie mir auch letzthin versichert. Schwieriger wurde es eben, als sie in der Pubertät mehr Autonomie beanspruchte. Heute können die jungen Leute so gut argumentieren, da dachte ich, sie sei auch schon fähig, den Diabetes allein zu managen. Aber es war eine Überforderung. Trotzdem muss man sehr grosszügig sein, Gutes loben und nicht den Ehrgeiz DR. MED. NADIA SAUTER OES MITGLIED REDAKTIONSKOMMISSION, WINTERTHUR Korrespondenzadresse: nadia.sauter@oes.ch Diabetes mellitus im Kindesalter – was bedeutet diese Diagnose für eine Familie? Interview mit lic. iur. Caroline Brugger Schmidt (Juristin) und Dr. med. Martin Schmidt (Kinderarzt)
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