31 02 / 2021 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ können sie den rund um die Uhr nötigen Therapie- und Betreuungsaufwand nicht korrekt abschätzen. Gerichtsentscheide liegen noch kaum vor, die eine einheitliche Beurteilung vorgeben könnten. Entsprechend gibt es in Bezug auf die Hilflosigkeit bei Kindern mit Diabetes Typ 1 bis heute keine Verwaltungsweisungen5 mittels derer ein möglichst einheitlicher Vollzug des Rechts durch die verschiedenen IV-Stellen gewährleistet werden könnte.6 Was ist die Rolle des Arztes? Ohne die Unterstützung der behandelnden Ärztin ist es meist schwer, eine Hilflosenentschädigung zu erlangen. Vor allem bei Beschwerdebildern, die eben diesbezüglich keine gefestigte Praxis haben. Es ist wichtig zu verstehen, dass der Begriff der «Hilflosigkeit» nicht medizinisch oder umgangssprachlich zu verstehen ist. Es ist ein sozialversicherungsrechtlicher Begriff, der gesetzlich definiert ist. Der Bezug einer Hilflosenentschädigung sagt per se nichts über die Schwere des Gesundheitsschadens aus, es geht auch nicht darum, die Erkrankung Diabetes Typ 1 im Vergleich mit anderen Krankheiten als besonders «schwer/schlimm» zu qualifizieren und die betroffenen Kinder dadurch zu stigmatisieren. Der von den betroffenen Kindern zu berücksichtigende Mehrbedarf an Hilfeleistungen ist immer im Vergleich zu nicht behinderten respektive gesunden Minderjährigen gleichen Alters zu stellen.7 Auch muss zwischen dem Bezug einer Hilflosenentschädigung und einer IV-Rente klar unterschieden werden. Zum einen ist der Bezug einer IV-Rente keine Voraussetzung, um eine Hilflosenentschädigung zu erhalten.8 Zum anderen entwickeln sich Kinder mit Diabetes Typ 1 mit fortschreitendem Alter, weshalb ab einem gewissen Alter der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung ohne Weiteres entfällt. Der Anspruch auf Hilflosenentschädigung wird zudem regelmässig auch auf sein Ausmass hin überprüft.9 Bei der Hilflosenentschädigung handelt es sich um eine versicherte Leistung, auf die grundsätzlich jedes Kind mit Wohnsitz in der Schweiz einen Rechtsanspruch hat.10 Es geht also nicht darum, dass sich die Eltern ungerechtfertigt bereichern wollen, oder um «Almosen» bitten, sondern um die Geltendmachung eines rechtmässigen Anspruches. Der Pflegeaufwand muss durch die Eltern nicht in einem quantifizierbaren Format nachgewiesen werden. So hält ein Gerichtsentscheid fest, es sei beispielsweise die Tatsache ausreichend, dass eine Mutter seit Jahren keine Nacht mehr durchschlafen kann, weil regelmässig nächtliche diabetesrelevante Aktionen medizinisch notwendig seien. Damit allein ist schon das Kriterium der besonders aufwendigen Pflege erfüllt.11 Da Kinder die Folgeschäden des Diabetes nicht abschätzen können, sich eigentlich «gesund» fühlen und ihnen also die Wichtigkeit ihres Beitrags zum Therapiemanagement nicht vollständig vermittelbar ist, kommt den Eltern und ihrem unermüdlichen Einsatz eine besondere Bedeutung zu. Somit scheint, dass die materiellen Voraussetzungen bei jedem Kind mit Diabetes Typ 1 grundsätzlich immer von Geburt weg bis etwa zum 15. Lebensjahr – unabhängig von der Therapie – gegeben sind. Es wäre wünschenswert, wenn die Ärzte für diese Themen sensibilisiert werden könnten und sie die Eltern auf die Möglichkeit der Hilflosenentschädigung aufmerksam machten. Alle Beteiligten können sich an Diabetesschweiz mit ihrer Rechtsberatung wenden. Für andere Krankheiten und Einschränkungen ist die Beratungsstelle von «Procap Schweiz» die richtige Anlaufstelle. Kinder sind einzig und alleine im Sinne der Sozialgesetzgebung «hilflos» und nicht bezogen auf das alltäglich soziale und schulische Leben. Wir sind alle gefragt, wenn es um die Gleichstellung und den Erhalt der Integration von Kindern mit Diabetes Typ 1 geht. Die Hilflosenentschädigung ist als reine Geldleistung zu sehen, die einen gesundheitsbedingten Mehraufwand abgelten soll. Diese Entschädigung wird oft eingesetzt, damit die Eltern ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Betreuung ihres Kindes reduzieren können oder Hilfspersonen bezahlen können.12 ■ 1. Indirekte Dritthilfe ist ebenfalls versichert. Dies bedeutet, dass die versicherte Person die Vornahme einer Tätigkeit zwar selbst ausführen kann, sie aber in diesem Tun überwacht oder nachkontrolliert werden muss. Insbesondere Kinder mit Diabetes Typ 1 sind meist «nur» auf indirekte Dritthilfe angewiesen. Dies ist auch bei vielen anderen sogenannten «unsichtbaren Krankheiten» der Fall. 2. Die Hilflosenentschädigung ist eine monatliche Pauschale. Die Höhe unterscheidet sich einerseits nach dem Grad der Hilflosigkeit (einfach, mittel oder schwer), anderseits danach, ob die versicherte Person zu Hause oder in einem Heim lebt. Gilt für Kinder, die zu Hause leben. Tarife vom 1.1.21 (vgl. https://www.ahv-iv.ch/p/4.13.d – zuletzt besucht am 25.4.21). 3. DEHN-HINDENBERG/LANGE, Eltern von Kindern mit Typ-1-Diabetes: Folgen für Berufstätigkeit, psycho-soziale Belastungen und Bedarf an Unterstützungsleistungen – Ergebnisse der AMBA-Studie, in: Diabetologie und Stoffwechsel, 2019; 14(S01): 69. 4. FANKHAUSER, Wenn Diabetes Typ 1 zum Familienmitglied wird, in: d-journal, 2015, 234, https://www.d-journal.ch/kind-und-diabetes/ wenn-diabetes-typ-1-zum-familienmitglied-wird> (besucht am 25. April 2021). 5. Auch das Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH), vom 2. Februar 2021 wurde ohne Berücksichtigung des Diabetes Typ 1 verfasst. (https://sozialversicherungen.admin.ch/de/d/6415/download) zuletzt besucht am 25. April 2021. 6. GÄCHTER/BURCH (Fn. 5), N 1.21; LOCHER/GÄCHTER (Fn. 4), § 4, N 40, 43, 49; MEYER (Fn. 4), Ziff. A, N 66, 70, 78. 7. Art. 37 Abs. 4 IVV; sogenannter «behinderungsbedingter Mehraufwand.» 8. Des Weiteren ist das Vorliegen eines Geburtsgebrechens keine Voraussetzung, um Hilflosenentschädigung erhalten zu können. 9. Es wird zwischen schwerer, mittelschwerer und leichter Hilflosigkeit unterschieden. 10. Vgl. Art. 42 Abs. IVG. 11. Entscheid vom 5.5.2020, IV 2019/80, Versicherungsgericht Kanton St. Gallen. Erw. 3, S. 10. 12. Vgl. Merkblatt procap; Hilflosenentschädigung und Intensivpflegezuschlag, 2021.
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