29 02 / 2021 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ Wirkung der Blutzuckerwerte auf die Stimmung der Familie Im Diabetes-Alltag droht das Thema «Blutzuckerwerte» die Kommunikation und die intrafamiliäre Beziehungsgestaltung zu dominieren. Wenn man weiss, wie Schulnoten die Familiendynamik beeinflussen können, kann man sich vorstellen, welchen Einfluss Blutzuckerwerte auf die innerfamiliäre Interaktion nehmen können. Deshalb lohnt es sich, schon bei Manifestation des Diabetes den Austausch über Blutzuckerwerte in der Familie aktiv mitzugestalten. Kinder wünschen sich als Individuum wahrgenommen und geschätzt zu werden. Deshalb möchten sie, wenn sie nach Hause kommen, bei der Begrüssung zunächst nach ihrem Befinden oder Erlebnissen in der Schule gefragt werden, und die Blutzuckerwerte sollten erst später thematisiert werden. Ansonsten können sich Kinder auf den Diabetes reduziert fühlen.4 Der Diabetes birgt die Gefahr, dass Befindlichkeit und Selbstwertgefühl der Familie mit den Blutzuckerwerten schwanken. Auch der HbA1c-Wert verführt dazu, die Kommunikation der Diabetessprechstunde zu dominieren. Er wird dadurch schnell von der Familie als alleiniges Bewertungskriterium erlebt. Liegt er im gewünschten niedrigen Bereich, sind Kinder und Eltern beruhigt und stolz. Ist der HbA1c-Wert dagegen zu hoch, entstehen Versagensgefühle und Ängste. Vieles kann einen erhöhten HbA1c-Wert verursachen, er bedeutet längst nicht immer, dass eine Familie nachlässig mit dem Diabetes umgegangen ist. Möglicherweise braucht es mehr Insulin, weil weniger körpereigenes Insulin produziert wird. Vielleicht lassen Sorgen oder Veränderungen des familiären Alltags nicht mehr genug Kraft für die notwendige Diabetesbehandlung zu. Eine wertfreie Haltung und Kommunikation des Betreuungsteams ermöglicht den Familien erst vertrauensvoll darüber zu sprechen.5 Voraussetzungen für das Gelingen einer Diabetesschulung Für die Diabetesschulung ist es zentral, sich die negativen Folgen von Androhung innerhalb des Lernprozesses vor Augen zu führen. Der heutige Forschungsstand beweist, dass Drohungen negative Folgen haben können. Bestrafung ist völlig wirkungslos für das Erlernen des gewünschten Verhaltens und zerstört die Beziehung. Eine angemessene, besprochene Belohnung hingegen erzeugt das Gefühl von Selbstwirksamkeit, was per se das Selbstwertgefühl und die intrinsische Motivation steigert. Diese grundlegenden Abläufe bei der Aneignung eines erfolgreichen Umgangs mit dem Diabetesmanagement müssen bei der Behandlung beachtet werden. Gelobt werden sollte primär nicht ein guter Blutzuckerwert, sondern das Messen an sich und das Sichkümmern um seinen Körper. Das bedeutet auch bei schlechten Werten anzuerkennen, dass sie gemessen und notiert wurden. Andernfalls können Blutzuckerwert-Fälschung oder Vermeidungsverhalten, d.h. Auslassen von Messungen, auftreten. Das Behandlungsteam kann so gemeinsam mit dem Patienten und der Familie ein freudiges Interesse am Knobeln und Herausfinden von Erfolg versprechenden Anpassungen wecken.4 Komorbiditäten Kinder und Jugendliche mit Diabetes mellitus und psychischen Begleitstörungen weisen eine erhöhte somatische Morbidität und Mortalität auf, ihre Lebensqualität ist stark reduziert. Bei ADHS greift die wiederholte Diabetes-Schulung nicht. Bei Angsterkrankungen werden individuelle Spritzpläne im entscheidenden Moment ignoriert. Wird eine psychiatrische Komorbidität vermutet, haben deren Abklärung und Therapie Vorrang. Häufig kann erst nach der Behandlung der psychiatrischen Störung die Optimierung der Diabetesbehandlung erreicht werden. Insofern könnte man sagen: Gelingt nach angemessener Diabetesschulung die Therapiedurchführung nicht, sollte eine psychiatrische Komorbidität gesucht und behandelt werden.4 Botschaften ■ Die psychologische Betreuung von Kindern sollte idealerweise von Beginn der Diabetes-Manifestation an erfolgen. ■ Das HbA1c ist keine «Schulnote» für das Engagement und die Mühe im Umgang mit dem Diabetes. ■ Bei unzureichender Therapiedurchführung trotz angemessener Diabetesschulung sollte an psychiatrische Komorbiditäten gedacht werden. ■ Die Betreuung der Diabetesbetroffenen ist eine interdisziplinäre Arbeit. ■ QUELLEN 1. Remschmidt, H., Becker, K. (2019). Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Stuttgart: Georg Thieme. 2. Schweizer, J., Von Schlippe, A. (2015). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II. Das störungsspezifische Wissen. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. 3. Bartus, B., Krüger, K. (2018). Chronische Krankheiten und psychosomatische Folgen im Kindes- und Jugendalter. In: Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter (1. Aufl.) Heft 06/2018, S. 110. 4. Bartus, B., Hilgard, D., Meusers, M. (2016). Diabetes und psychische Auffälligkeiten. Diagnose und Behandlung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen (1. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. 5. Hürter, P., Lange, K. (2001). Kinder und Jugendliche mit Diabetes. Medizinischer und psychologischer Ratgeber für Eltern. Berlin, Heidelberg: Springer.
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