KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 2/2021

28 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L 02 / 2021 K I N D E R Ä R Z T E. SCHWEIZ Wir starten mit einem Fallbeispiel und erkunden, welche Art von Unterstützung die Psychosoziale Interdisziplinäre Sprechstunde bieten kann. Moritz, ein 16-jähriger Gymnasiast, lässig und gleichgültig auftretend, erkrankte mit 9 Jahren an Diabetes mellitus Typ 1. Die Behandlungsvorschriften beachtet er ungenügend, er isst und trinkt, worauf er Lust hat. Den Blutglukosespiegel bestimmt er höchstens einmal täglich. Insgesamt spritzt er bis zu 70 Einheiten Insulin pro Tag. Seinen Arzt konsultiert er lediglich dreimal im Jahr. Die Stoffwechseleinstellung ist seit Jahren schlecht, der aktuelle HbA1c-Wert beträgt 12,5%. Klinikaufenthalte zur Behandlungsoptimierung lehnt Moritz ab, mögliche Spätfolgen weist er weit von sich. Moritz äussert, er fühle sich allein, vom Umfeld unverstanden und ungeliebt. Phasenweise zieht er sich in sein Zimmer zurück und lehnt Kontaktangebote ab. In solchen Momenten denke er, es wäre besser, nicht mehr am Leben zu sein. Er zeigt Symptome einer rezidivierenden mittelgradigen depressiven Episode (F 33.1 nach ICD-10). Seine Mutter ist angesichts der fatalistischen Einstellung verzweifelt. Früher habe sie Moritz aus Angst vor Stoffwechselentgleisungen stark kontrolliert. Sie sei überbesorgt und auf die Blutzuckerwerte fixiert gewesen, was sie jetzt bereue. Derzeit habe sie keinen Zugang zu Moritz. Moritz erklärt, er wolle sein eigenes Leben führen, seinen Diabetes eingeschlossen, das gehe niemanden etwas an! Psychiatrische Intervention: Die empfohlene Psychotherapie wird von Moritz abgelehnt. In der Elternberatung werden das kontrollierende Verhalten, die Ängste und Schuldgefühle der Mutter besprochen. Der Vater wird stärker involviert, er trägt dadurch mehr Verantwortung, was für die Mutter entlastend wirkt. Mit den Eltern wird ein Verständnis dafür erarbeitet, dass das Verhalten von Moritz ein altersentsprechender, aber ungünstiger Versuch ist, um Selbstständigkeit zu erlangen. Dadurch können die Eltern sein Ringen um Autonomie anerkennen, darin eine Kraft sehen und diese wertschätzen. Sie erleben sein Verhalten nicht mehr als rein oppositionell, sondern als falsch eingesetzte Energie, die aus seiner Verzweiflung hervorgeht. Diese Sichtweise ermöglicht den Eltern wieder einen positiveren, wohlwollenderen Zugang. Moritz fühlt sich wahrgenommen und kann diesen Raum zunehmend für Selbstreflexion nutzen. Die intrafamiliäre Anspannung reduzierte sich und Gespräche wurden wieder möglich. Moritz kann sein verweigerndes, destruktives Verhalten zugunsten einer verantwortungsvolleren Selbstständigkeit aufgeben und seine aggressiven Impulse für Entwicklungsschritte nutzen.1 Diagnoseeröffnung Die Situation der Diagnoseeröffnung ist ein zentraler, weichenstellender Punkt. Wird der Diabetes sofort in einen Kontext von Interdisziplinarität und Familie gestellt, werden Betroffene den Kontakt zur Psychologin und den Einbezug der ganzen Familie akzeptieren. Wird hingegen erst bei krisenhaften Verläufen der Psychologe als «Reparaturauftragsdienst» oder «Feuerlöscher» hinzugezogen, ist ein Kontext von Versagen markiert, der einen positiven Zugang erschwert. Die Einladung an die Familie als Ganzes signalisiert, dass der Diabetes das ganze Familiensystem betrifft, und bietet den Eltern die Möglichkeit im Alltag gleichwertig und gegenseitig unterstützend zu funktionieren.2 Untersuchungen haben gezeigt, dass die Mehrheit der Eltern eine psychologische Begleitung wünscht. Da in der ersten Zeit nach der Diagnose viele Kinder und Jugendliche eine Anpassungsstörung aufweisen, aber auch die Eltern psychisch belastet sind, ist eine psychologische Unterstützung zur Krankheitsverarbeitung von Anfang an sinnvoll. Wenn bereits zu Beginn der Behandlung die Adaptation an die veränderten Lebensumstände nicht ausreichend gelingt, besteht das Risiko einer insuffizienten Krankheitsbewältigung mit daraus resultierenden Problemen im Diabetesmanagement.3 Familien, die bereits ohne Diabetes viele soziale Spannungen und starke Beziehungsprobleme aufweisen, sollten erkannt und unterstützt werden. Nicht alle stehen einem ersten psychologisch orientierten Gespräch aufgeschlossen gegenüber. Die Kernbotschaft einer Psychologin in einem anfänglichen Familiengespräch beinhaltet die Vorstellung des psychologischen Behandlungsangebotes, das die Familie jederzeit in Anspruch nehmen darf.2 Es gilt zu erkennen, für welche Familie welche Form der Unterstützung nötig ist. DR. MED. ASTRID WALUKIEWICZ ASSISTENZÄRZTIN KJPD BL UND PSYCHOSOMATIK UNIVERSITÄTSKINDERSPITAL BEIDER BASEL UKBB, BASEL Korrespondenzadresse: astrid.walukiewicz@pbl.ch DR. MED. BEATRICE GÖSCHKE FMH KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE, UND PSYCHOSOMATIK UNIVERSITÄTSKINDERSPITAL BEIDER BASEL UKBB, BASEL Korrespondenzadresse: beatrice.goeschke@pbl.ch Welche zentralen psychiatrischen Grundsätze gelten bei der Behandlung des Diabetes? Die psychische Belastung jugendlicher Diabetikerinnen und Diabetiker ist sehr gross. Sie führt oft zu psychischen Störungen mit negativen Folgen für die Behandlung des Diabetes. Psychische Aspekte beim Juvenilen Diabetes mellitus Typ 1

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