KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021
6 IN MEMOR IAM 01 / 2021 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ Forscher, Autor und gefragter Interviewpartner Abgesehen von seinen Bestsellern «Babyjahre» und «Kinderjahre» war seine Stimme stets auch dort zu hö- ren, wo gesellschaftspolitische Fragen auftauchten, die eine kinderärztliche Stellungnahme erforderten. Me- dienschaffende hatten nämlich rasch erkannt, dass sich die meisten Kinderärzte schwertun, sich zu pädia- trisch relevanten, politisch aber kontrovers diskutierten Themen, wie ausserfamiliäre Kinderbetreuung, Eltern- urlaub oder Lehrplan 21 öffentlich zu äussern, während Remo Largo sich nicht scheute, mit pointierten Antwor- ten Stellung zu beziehen. Seine Statements basierten auf einem klar umrisse- nen Menschenbild, das sich an den Grundbedürfnis- sen der Kinder und ihrer Familien orientierte. Von Leu- ten, denen es nur um die Interessen der Erwachsenen und der Wirtschaft ging, liess er sich nie vor den Karren spannen. Von jungen Familien wurden seine Ansichten mit Begeisterung aufgenommen, während er mit sei- ner kompromisslosen Orientierung an den Bedürfnis- sen der Kinder bei Bildungspolitikern immer wieder auf Ablehnung gestossen ist. Sie haben ihm vorgehalten, die kindlichen Anliegen über jene der Gesellschaft zu stellen, und sich in fremde Fachgebiete einzumischen. Beobachten und zuhören – nicht doktrinär beraten Die erste Hälfte seiner Berufstätigkeit hatte Largo der wissenschaftlichen Bearbeitung einer weltweit einmali- gen Sammlung longitudinal erhobener Daten zur Ent- wicklung gesunder Kinder gewidmet, während er die zweite Hälfte darauf verwendete, die Resultate seiner Untersuchungen aus dem engeren Fachkreis hinaus zu tragen und einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Eltern erhielten von ihm keine uniformen Ratschläge, sondern die Aufforderung, ihr Kind genau zu beobach- ten um es besser zu verstehen. Er hat es stets vermieden seine populären Bücher als Erziehungsratgeber anzu- preisen. Selbstverständlich war er dennoch ein subti- ler und genialer Berater, nur liess er sich das nicht an- merken. Bei der gemeinsamen Besprechung komplexer Patienten-Situationen habe ich eine merkwürdige Be- obachtung gemacht: Er lenkte mich stets mit einer ge- schickten Abfolge von Fragen zur scheinbar selbstän- digen Lösung des Problems. Das vermittelte mir das Gefühl, die Lösung selbst gefunden zu haben, denn wem gehört schon das Copyright auf einen Gedanken, den man gemeinsam entwickelt hat? Eltern, die bei ihm Rat gesucht haben, ist es wohl ähnlich ergangen; sie glaubten, die Lösung selbst gefunden zu haben. Normvariante oder pathologischer Befund? Die grafische Darstellung von epidemiologisch erho- benen Entwicklungsdaten erfolgt oft in Form von Per- zentilen-Kurven. Diese könnten dazu verleiten, einen fixen Grenzwert festzulegen, unterhalb welchem alle Messwerte als «pathologisch» anzusehen sind. Nichts könnte jedoch Largos Überzeugungen mehr wider- sprechen. Für ihn war das Bündel der Prozentrang-Kur- ven nicht ein Mittel zur Festlegung von Grenzwerten, sondern eine Möglichkeit die eindrückliche Variations- breite der normalen Entwicklung darzustellen. Er hat uns stets dazu angehalten, Messwerte ausserhalb der statistischen Norm differenziert zu betrachten und nicht voreilig eine Therapie anzuordnen. Wachstum und Entwicklung das Fundament der Pädiatrie Das zunehmende Auseinanderdriften der Klinikpädiat- rie in ihre Subspezialitäten hat er mit grosser Sorge be- DR. MED. ARNOLD BÄCHLER FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN FMH, ST.GALLEN Korrespondenzadresse: baechler.arnold@bluewin.ch Am 11. November 2020 ist Remo Largo im Alter von fast 77 Jahren gestorben. Den zahlreichen Würdigungen seines Wirkens in Zeitungen, Radio und Fernsehen soll hier eine aus dem Blickwinkel der Praxispädiatrie hinzugefügt werden. Das Kind im Zentrum Gedanken zu Remo Largo
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