KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021

47 01 / 2021 DAS GUTE K INDERBUCH FÜR DI E PRAX I S K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ «I ch habe schon immer ein Geheimnis gehabt: eine winzige Freundin namens Angst. Die Angst hat im- mer auf mich aufgepasst und mich beschützt. Wir haben gemeinsam Neues erforscht und zusammengehalten. Aber seit wir in dieses neue Land gekommen sind, ist die Angst nicht mehr so klein. Sie wächst und wächst.» So beginnt das Bilderbuch von Francesca Sanna, mit dem sie an ihr preisgekröntes Debut «Die Flucht» anknüpft. Sie erzählt darin von einem Mädchen mit seinem persona- lisierten Gefühl «Angst». Dabei wird Angst primär nicht als etwas Negatives dargestellt, sondern im Gegenteil als eine Freundin und Spielgefährtin – grafisch als freund- liches Wesen mit eigenem Willen und eigenen Emoti- onen – die erst mit zunehmender Grösse immer über- protektiver, mächtiger und einschränkender wird. Denn in dem fremden Land, in dem sich das Mädchen wie- derfindet, wird die Angst so gross, dass sie immer mehr Raum einnimmt und so das Mädchen von der restlichen Welt separiert. Die Angst ist schliesslich so gross, dass sie mehr als die Hälfte der Buchseiten einnimmt und alle Le- bensbereiche des Mädchens beeinträchtigt. Bis schliess- lich ein Junge unerwartet beginnt, mit dem Mädchen zu spielen, wodurch die Angst bereits wieder kleiner wird. Als sich schliesslich der Junge vor einem Hund erschreckt und hinter seiner eigenen Angst, ebenfalls einem weis- sen Traumwesen, versteckt, sieht das Mädchen plötzlich, dass alle anderen Kinder ebenfalls Ängste haben. Mit der nun wieder auf handliche Masse geschrumpften Angst kann sie wieder am Leben teilhaben und mit den ande- ren Kindern spielen. Das Buch kommt mit sehr wenig Text aus und besticht durch seine plakativen, aber gleichzeitig sehr feinfüh- lig gezeichneten Bilder. Sehr schön dargestellt finde ich den Aspekt, dass Angst nicht an sich etwas Schlech- tes ist, sondern auch eine Schutzfunktion hat, sie be- wahrt uns davor, uns durch Leichtfertigkeit in Gefahr zu bringen. Erst wenn sie übermächtig wird, behindert sie das Handeln – grafisch durch Mimik und Gestik der seitenfüllenden Angst, die das Mädchen von allen an- deren Elementen der Seite fernhält, sehr schön darge- stellt – eine «kleine Angst» dagegen ist eigentlich hilf- reich, weil sie uns in kritischen Situationen beschützt. Das Buch ist allerdings kein allgemeines Buch über «Angst», sondern bezieht sich sehr stark auf die Situa- tion von ausländischen Kindern in einem fremden Land. Es eignet sich daher meines Erachtens vor allem gut, um für Verständnis für die Schwierigkeiten von Flücht- lingen zu werben, weniger um allgemein das Thema Angst oder Angstbewältigung bei Kindern, die selber von Ängsten betroffen sind, zu thematisieren. Dafür scheint mir der gedankliche Transfer dieser Angst auf ihr eigenes Angstgefühl zu abstrakt – zumal es sich ja um ein Bilderbuch handelt, also ein Buch für Kinder im Vorschulalter. Grafisch handelt es sich um ein sehr gelungenes Buch, dessen Bilder wahrscheinlich vor allem auch bei den Er- wachsenen Anklang finden werden. ■ AUTORIN DR. MED. KERSTIN WALTER BERN, MITGLIED REDAKTIONS- KOMMISSION Korrespondenzadresse: praxis@drwalter.ch Nord Süd Verlag, Übersetzt von Thomas Bodmer Durchgehend farbig illustriert € D 16,00 / € A 16,50 / CHF 20.90 Hardcover mit Halbleinen / 23×26 cm 40 Seiten / ab 4 Jahren , ISBN: 978-3-314-10471-8 Ich und meine Angst Francesca Sanna Bild: NordSüd Verlag AG

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