KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021

38 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L 01 / 2021 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ überfordert sind, kann das medizinische Personal, das das Kind betreut, diese Entscheidungen stellvertretend treffen. Dies betrifft – so der Münsteraner Kinderarzt Georg Rellensmann – solche Bereiche, in denen es ei- nen echten Dissens auch unter Fachleuten über das angemessene Vorgehen gibt, z.B. bei Frühgeborenen, die in der 22.–25. Schwangerschaftswoche geboren werden. Hier gibt es international unter Neonatolo- gen keine Einigkeit darüber, ob eine Intensivtherapie im Interesse des Kindes begonnen werden soll oder nicht. Rellensmann betont, dass zudem über den Um- gang mit lebensbegrenzenden Entscheidungen in sol- chen Grauzonen ein gesellschaftlicher Diskurs geführt werden sollte (Rellensmann 2014). Je älter das Kind ist, desto eher kann und muss es in therapiebegrenzende und therapiebeendende Entschei- dungen einbezogen werden. Dies setzt eine wahrheits- gemässe Aufklärung des Kindes voraus. Eine solche Aufklärung sollte auch Gespräche über ein bevorste- hendes Sterben nicht ausschliessen (Niethammer 2003). zu nehmen. Denn Praxen und Krankenhäusern sind oft so organisiert, dass Kinderbedürfnisse im durchstruk- turierten Ablauf leicht übersehen werden. Zudem sind viele Erwachsene immer noch gewohnt, Kinderinte- ressen automatisch geringer zu bewerten als Erwach- seneninteressen. Diesen Tendenzen muss auf der Ebe- ne der Organisation systematisch vorgebeugt werden. Dazu sind Massnahmen für eine kinderfreundliche In- frastruktur, standardisierte Abläufe und spezifische Aus- bildungsprogramme nötig. Massnahmen für eine kinderfreundliche Infrastruktur Arztpraxen und Krankenhäuser müssen auf die beson- deren Bedürfnisse von Kindern und ihren Begleitperso- nen Rücksicht nehmen. Dazu gehören eine freundliche Gestaltung von Räumlichkeiten, ausreichende Möglich- keiten zum Spiel, ggf. schulische Angebote sowie das Angebot für Eltern, ihr Kind überall hin zu begleiten (auch in den Bereich der OP-Vorbereitung) und in der Nähe des Kindes übernachten zu können. Standardisierte Abläufe Damit das Kind sein Recht auf Partizipation wahrneh- men kann, müssen Informations- und Entscheidungs- gespräche stets so gestaltet sein, dass Kinder direkt an- gesprochen werden und in Entscheidungen einbezogen werden. Unterhaltungen nur mit den Eltern über den Kopf des partizipationsfähigen Kindes hinweg müssen vermieden werden. Ein solches erwünschtes Verhalten aller Mitglieder eines therapeutischen Teams muss sys- tematisch gebahnt werden, etwa durch die Vorschrift, den Kindeswillen routinemässig in der Krankenakte zu dokumentieren. Wiederkehrende, für das Kind beängs- tigende, beschämende oder schmerzvolle Massnahmen müssen auf möglichst schonende und für das Kind ver- lässliche Weise durchgeführt werden. Protokolle für ei- nen standardisierten, angst- und schmerzvermeidenden Umgang mit belastenden Prozeduren müssen in Koope- ration mit Kindern entwickelt und erprobt werden. Die Zufriedenheit von Kindern mit der Behandlung muss gesondert und kinderfreundlich erfasst werden. Kinder (und Eltern) sollten die Möglichkeit erhalten, sich auf standardisiertem Weg über schlechte und respekt- lose Behandlungen zu beschweren. Aufklärungsmate- rialien müssen in kinderfreundlicher Form in mehreren, altersentsprechenden Versionen vorliegen. Alle Mitglie- der des therapeutischen Teams sollten ein verbindliches Prozedere, das in Absprache mit dem lokalen Jugend- amt entwickelt wurde, bei Verdacht auf Verwahrlo- sung, Misshandlung oder Kindesmissbrauch einhalten. Der Umgang mit sterbenden oder verstorbenen Kindern und sollte einheitlich, rücksichtsvoll, kindbezogen und kultursensibel gestaltet sein. Eine schon in den Siebzigerjahren durchgeführte Studie mit sterbenden Kindern ergab, dass viele schwerstkranke Kinder sich ihrer Situation bewusst waren, aber aus Rücksicht auf ihre Eltern vorgaben, nicht zu wissen, wie es um sie steht (Bluebond-Langner 1978). Das Kind ist dann in der grossen Gefahr, in einer existentiell bedrohlichen und belastenden Situation systematisch allein gelassen zu werden. Das Patientenverfügungsgesetz von 2009 regelt zwar nur die Geltung von Patientenverfügungen von voll- jährigen einwilligungsfähigen Personen. Dies schliesst jedoch nicht aus, dass auch nicht volljährige Perso- nen patientenverfügungsähnliche Erklärungen verfas- sen können. Diese müssen respektiert werden, wenn die verfassende Person zum Zeitpunkt der Abfassung selbstbestimmungsfähig war. Ärztinnen und Ärzte, die chronisch kranke Kinder betreuen, können sich davon normalerweise einen verlässlichen Eindruck verschaffen. In einer palliativmedizinischen Situation oder Sterbesi- tuation sollten sie das Gespräch mit dem kranken Kind suchen und wahrheitsgemässe Informationen anbieten. Wichtig ist es dabei, die Eltern in einen solchen offenen Umgang mit Tod und Sterben einzubeziehen, um dem Kind eine Unterstützung durch nahe stehende Perso- nen zu ermöglichen. Organisationsethik Den besonderen Bedürfnissen vulnerabler Gruppen muss auf verschiedenen Ebenen Rechnung getragen werden. Es reicht in der Regel nicht, wenn die einzelnen Mitglieder des therapeutischen Teams gewillt sind, die ethischen Belange von Kindern und Jugendlichen ernst

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