KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021
37 01 / 2021 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ der engen Beziehung zu den Eltern bzw. Sorgeberech- tigten. Elternschaft besteht in moralischer Hinsicht in der verbindlichen, auf Dauer angelegten, verantwor- tungsvollen und liebevollen Beziehung zu einem Kind (Wiesemann 2006). Die Förderung dieses Beziehungs- verhältnisses ist ein wichtiges moralisches Gebot. Und schliesslich ist Familie der Ort, an dem diese engen Be- ziehungen zu den Eltern, ggf. auch den mit der Erzie- hung betrauten Grosseltern und den Geschwistern ge- pflegt und mit Leben erfüllt werden. Mitglied einer Familie zu sein heisst in moralischer Hinsicht, die über die eigenen Interessen hinausgehenden Interessen der anderen Mitglieder und der Familie als Ganze im Blick zu haben und zu fördern. Deshalb müssen gerade in der Kinderheilkunde und Jugendmedizin beziehungsethi- sche Ansätze individualethische Konzepte ergänzen. Um diesen beziehungsethischen Idealen gerecht zu wer- den, sollte in der Regel ein konsensorientiertes Verfahren gewählt werden. Kinder und Eltern sollten gemeinsam in Entscheidungen einbezogen werden. In Konfliktfällen sollte ein Interessensausgleich angestrebt werden. Kom- promisse sollten darauf abzielen, die Eltern-Kind-Bezie- hung und andere familiäre Beziehungen nicht zu ge- fährden. Der Erhalt solcher Beziehungen ist also auch im Interesse des Kindes ein wichtiges Therapieziel. Dabei drohen von zwei Seiten Gefahren. Auf der ei- nen Seite können bei der Suche nach einem Kompro- miss fundamentale Interessen des Kindes als Person und als Mensch mit Würde verletzt werden. Die existentiel- le Beziehungsbedürftigkeit des Kindes darf nicht dazu verleiten, das Kind als Individuum mit eigener morali- scher Würde zu übersehen. Auf der anderen Seite kann die radikale Verfechtung individueller kindlicher Interes- sen dazu führen, die existentielle Beziehungsbedürftig- keit des Kindes zu übersehen, etwa wenn adipöse Klein- kinder aus ihren Familien genommen werden, um ihrem Recht auf gesunde Ernährung Nachdruck zu verschaffen. lässigt, misshandelt oder missbraucht wird oder wenn ihm aus intersubjektiv nicht nachvollziehbaren Grün- den eine lebenserhaltende Therapie vorenthalten wird. In all diesen Fällen muss jedoch zugleich der Bezie- hungsbedürftigkeit des Kindes zumindest insofern Res- pekt gezollt werden, als der Kontakt zu den Eltern nicht gänzlich abgebrochen wird und in jedem Fall vorüber- gehender, adäquater Ersatz geschaffen wird. Therapiebegrenzung und der Umgang mit Sterbenden Auch bei Kindern und Jugendlichen können und müs- sen therapiebegrenzende und therapiebeendende Ent- scheidungen gefällt werden, wenn die Prognose infaust ist und eine weitere Behandlung nicht mehr im Interes- se des Kindes ist. Solche Entscheidungen bei nicht-ein- willigungsfähigen Minderjährigen und insbesondere bei Neugeborenen werfen allerdings besondere Probleme auf. Das Konzept des mutmasslichen Willens ist umso weniger von Nutzen, je jünger das Kind ist und je weni- ger überhaupt ein Wille oder Interesse des Kindes schon zu erkennen ist. Je jünger der Minderjährige ist, desto eher muss das Fremdurteil an die Stelle eines Eigenurteils treten. Die damit verbundene Sorge, dass damit ein Urteil über den (abstrakt verstandenen) Lebenswert eines Kindes gefällt wird, ist ernst zu nehmen. In der Regel müssen Massnahmen so gestaltet sein, dass sie den individuellen wie den beziehungsorientierten Bedürfnissen des Kindes Rechnung tragen. Die externale und objektive Bewertung der Risiken und Belastungen durch Fachleute muss durch die internale und subjektive Bewertung der Risiken und Belastungen durch das Kind und seine Eltern ergänzt werden. Ziel ist eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Eltern und Kind sowie zwischen den Mitgliedern des therapeutischen Teams und dem Kind. In einigen Fällen wird es dennoch unerlässlich sein, das Kind – zumindest vorübergehend – aus der Obhut sei- ner Eltern zu entfernen, etwa wenn es schwer vernach- Pauschalurteile, denen zufolge man unmittelbar von einer bestimmten Eigenschaft oder ihrem Fehlen auf den Wert eines menschlichen Lebens schliessen könne, müssen zurückgewiesen werden. Das schliesst jedoch Therapiebegrenzungs- Entscheidungen, die an der Lebensqualität des Kindes ausgerichtet sind, nicht aus. Das Kind – und insbesondere das Neugeborene – ist schon im Normalfall für die Befriedigung seiner Be- dürfnisse auf das Einfühlungsvermögen nahe stehen- der Personen angewiesen. In einer Situation mit frag- würdiger oder infauster Prognose kann und muss die Einfühlung in die individuelle Situation des Kindes und eine Orientierung an der dem Kind verbleibenden Le- bensqualität an die Stelle der fehlenden objektiven Da- ten über die Überlebensaussichten eines Kindes treten. Eine solche empathische Einschätzung sollte in erster Linie von den Eltern bzw. jenen Personen, die dem Kind emotional nahe stehen, vorgenommen werden. Mehrere grosse empirische Studien haben gezeigt, dass Eltern diese Rolle in der grossen Mehrheit auch übernehmen wollen und können (Rellensmann 2014, 137). Erst wenn sie mit einer solchen Entscheidung
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