KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021

36 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L 01 / 2021 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ Ein weiteres Problem der gerechten Versorgung in der Kinder- und Jugendmedizin betrifft Patienten mit chro- nischen Erkrankungen, z.B. Herzfehlern oder Mukovis- zidose, die wegen der guten Therapiemöglichkeiten das Erwachsenenalter erreichen. Die Erwachsenenmedizin ist auf die Versorgung dieser Gruppe oft schlecht vor- bereitet. Erwachsenenkardiologen sind beispielsweise nicht gut für die Langzeitversorgung kindlicher Herz- fehler ausgebildet. Junge Erwachsene werden deshalb nicht selten weiterhin auf Kinderstationen behandelt. Dies wird jedoch ihrer besonderen Lebenssituation nicht gerecht. In der ärztlichen Ausbildung und bei der Pla- nung von Versorgungszentren müssen diese besonde- ren Probleme chronisch kranker junger Erwachsener besser berücksichtigt werden. Schliesslich besteht auch ein allgemeines Gerechtig- keitsproblem mit Blick auf die gesamte Gruppe der Kin- der und Jugendlichen. Sie sind insgesamt weniger gut mit evidenzbasierter Medizin versorgt, denn Medika- mentenstudien werden üblicherweise zunächst an Er- wachsenen durchgeführt. Weitere Studien mit Kindern lohnen sich aber für den Hersteller oft nicht, da die- se aufwendig sind und nur eine kleine Zahl von Kran- ken betrifft, der potenzielle Absatzmarkt solcher Medi- kamentenentwicklungen also auch klein ist. Es ist aber keinesfalls selbstverständlich, dass Erwachsenenmedi- kamente bei Kindern oder Jugendlichen gleiche Wir- kungen haben. In der Kinderheilkunde und Jugend- medizin müssen deshalb viele Medikamente ohne ausreichende wissenschaftliche Prüfung lediglich auf der Basis von Erfahrung eingesetzt werden. Diesen Ein- satz nennt man «off-label use»: Medikamente werden bei Kindern und Jugendlichen angewendet, obwohl es für Dosis, Anwendungsdauer oder Darreichungsart kei- ne ausreichenden wissenschaftlichen Studien gibt und über Risiken nicht angemessen informiert werden kann. In dieser Situation kann nur Abhilfe geschaffen wer- den, indem Anreize geschaffen werden, solche Studi- en durchzuführen, und insgesamt bei den Gesundheits- berufen wie auch in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für die Bedeutung klinischer Forschung gefördert wird. Eltern, die über die Problematik des off-label use infor- miert wurden, sind jedenfalls eher bereit, einer Studien- teilnahme ihres Kindes zuzustimmen (Lenk et al. 2009). Vertrauenswürdigkeit Neben den bekannten, auf Beauchamp und Childress zurückgehenden medizinethischen Prinzipien hat in der Kinderheilkunde und Jugendmedizin auch das Prinzip der Vertrauenswürdigkeit eine hohe Bedeutung. Ver- trauen kann als eine moralische Praxis verstanden wer- den, die Abhängigkeitsbeziehungen charakterisiert (Wiesemann 2016a). Wer sich selbst nicht mehr helfen kann, muss als Kranker seine Gesundheit oder sogar sein Leben Ärzten anvertrauen. Indem man vertraut, ak- zeptiert man diese Verletzlichkeit und setzt seinen Glau- ben in die Integrität und die gute Absicht seines Gegen- übers. Dabei wird die Abhängigkeit positiv gewendet, denn indem der Abhängige sein Vertrauen in den an- deren setzt, verpflichtet er ihn implizit auf ein Verhal- ten zu seinem Besten. Damit verortet der Vertrauende sich und sein Gegenüber in der Sphäre der Moral. Wenn besonders vulnerable Personen vertrauen, hat dies ei- nen hohen Verpflichtungsgrad für die derart angespro- chenen Personen. Dies gilt insbesondere für Kinder, de- nen oft nichts anderes übrig bleibt, als ihr Vertrauen in die sie umgebenden Erwachsenen zu setzen. Wer ein solches Vertrauen einer existentiell abhängigen Person enttäuscht, muss mit scharfer moralischer Missbilligung rechnen. Dies gilt sogar für Fremde, denen sich ein Kind zufälligerweise anvertraut. Die moralische Pflicht von Personen, denen ver- traut wird, ist es nicht nur, ihre Aufgabe professi- onell zu erfüllen, sondern dabei auch das Vertrau- en von Minderjährigen ernst zu nehmen und den Bedürfnissen von Minderjährigen entsprechend angemessen zu beantworten. Damit respektieren und bekräftigen sie die moralische Bedeutung und Würde des Kindes. Das Vertrauen eines Kindes kann auf sehr unterschiedli- che Art und Weise erworben und erhalten werden. Oft wird es beispielsweise nicht möglich sein, eine medizi- nische Massnahme schmerzfrei und ohne das Kind zu beängstigen durchzuführen. Dennoch kann Vertrauen hergestellt werden, indem das Kind auf unangenehme Massnahmen vorbereitet wird, im Gespräch seine Ko- operation gesucht wird und verlässliche Vereinbarun- gen zur Kontrolle der Situation oder zur Schmerzreduk- tion getroffen werden. Das Vertrauen zwischen dem therapeutischen Team und dem kranken Kind ist von ausserordentlich grosser Bedeutung für die Entstehung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung. Es erfor- dert ein systematisches und langfristiges Engagement aller beteiligten Erwachsenen im Bewusstsein um die Fragilität einer auf Vertrauen aufgebauten Beziehung. Wer sich heute bei einem kleinen Eingriff rücksichtslos über den Widerstand des Kindes hinwegsetzt, riskiert, morgen bei einem wichtigen Eingriff ein misstrauisches und nicht mehr kooperationswilliges Kind vorzufinden. Beziehungsethische Aspekte Ein strikt individualistischer Zugang, der lediglich die Rechte und Interessen von Einzelpersonen gegenei- nander abwägt, ist bei Kindern und Jugendlichen oft nicht ausreichend. Persönliche Bezugspersonen sind für Kinder von ausserordentlich grosser Bedeutung. Iden- tität und Persönlichkeit des Kindes entwickeln sich in

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