KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021
35 01 / 2021 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ hen, gute familiäre Beziehungen und eine förderliche Umgebung, die es dem Kind erlaubt, seine Persönlich- keit und seine Talente zu entfalten. Im Normalfall soll- ten zwar alle diese Aspekte gemeinsam berücksichtigt werden, es ist jedoch unter Umständen geboten oder jedenfalls gerechtfertigt, einem Aspekt Vorrang vor an- deren zu geben. Beispielsweise können Eltern im Inte- resse der körperlichen und geistigen Entwicklung des Kindes Freiräume schaffen, die mit einem erhöhten kör- perlichen Risiko einhergehen, etwa wenn sich das Kind für eine Risikosportart begeistert. Hier ist ein elterlicher Entscheidungsspielraum unerlässlich. Dieser stösst je- doch an Grenzen, wenn es um das Leben oder andere wesentliche Interessen des Kindes geht. Staatliche Eingriffe in das elterliche Privileg der Erzie- hung sind gerechtfertigt, wenn das Kindeswohl ge- fährdet ist (Dettenborn 2010). Dies ist regelmässig der Fall, wenn das Kind verwahrlost oder traumatisiert wird, z.B. durch Vernachlässigung, körperliche Misshandlung oder sexuellen Missbrauch. Ärztinnen und Ärzte sind neben den Sorgeberechtigten oft die einzigen Perso- nen, die das Kind aus der Nähe und auch unbekleidet sehen. Sie tragen deshalb eine besondere Verantwor- tung, Fälle von Verwahrlosung und Misshandlung zu identifizieren und Massnahmen zum Schutz des Kin- des zu unternehmen. Personen, die in der Kinderheil- kunde und Jugendmedizin arbeiten, sollten für solche Fälle standardisierte Vorgehensweisen etablieren. Ver- dachtsmomente müssen systematisch protokolliert wer- den; mit dem Jugendamt sollten Absprachen getroffen werden; Mitarbeiter sollten in regelmässigen Abständen im Umgang mit solchen Fällen und insbesondere auf ein kindgerechtes Verhalten hin geschult werden. Aus ethischer Sicht umstritten ist, ob Eltern die Be- schneidung männlicher Neugeborener autorisieren dürfen. Die aus sozialen wie spirituellen Gründen be- deutsame Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemein- schaft muss hier gegen das sehr geringe, aber nicht vernachlässigbare körperliche Risiko für das Kind und die Schmerzbelastung abgewogen werden. Kompliziert wird diese Abwägung durch die Tatsache, dass keine Ei- nigkeit darüber besteht, welche mittel- bis langfristigen körperlichen Vorteile (z.B. weniger Infektionen) oder Nachteile (z.B. reduziertes sexuelles Empfinden) mit der Beschneidung von Knaben verbunden sind. Medizinische Massnahmen müssen immer daraufhin überprüft werden, ob sie dem Kindeswohl dienen. Da- bei darf bei der Abwägung für oder gegen eine Mass- nahme nicht nur das objektive Risiko für das Kind, sondern es muss auch die subjektive Belastung be- rücksichtigt werden. Als Belastung gelten Verunsiche- rung, Beschämung, Angst und Schmerz, die abhängig vom Alter und der Verständigkeit des Kindes auch bei an sich trivialen Eingriffen auftreten können und de- nen systematisch vorgebeugt werden muss. Das Kin- deswohl kann also in verschiedener Hinsicht gefährdet sein: durch subjektive Belastungen für das Kind eben- so wie durch objektive Gefährdungen einschliesslich der Nachteile für die zukünftige Entwicklung des Kin- des, wenn etwa die Wahl der Geschlechtsidentität oder der Fortpflanzungsfähigkeit bei Kindern mit Intersex durch Eingriffe im Neugeborenenalter beschränkt wird. Auch das Recht auf Schulbildung kann bei chronischen Krankheiten gefährdet sein. Kindeswohlgefährdung durch medizinische Massnahmen: ■ Subjektive Aspekte: Schmerz, Angst, Verunsicherung, Beschämung ■ Objektive Aspekte: Nebenwirkungs- und Komplikationsrisiken ■ Zukünftige Aspekte: Beschränkung von grundlegenden, die Entwicklung des Kindes betreffende Optionen (Bildung, Identität, Fortpflanzungsfähigkeit o.ä.) Gerechtigkeit Gerechtigkeitsfragen werden in der Kinderheilkunde und Jugendmedizin auch in Ländern mit einem solida- risch finanzierten Gesundheitswesen aufgeworfen. Gesundheit ist wichtig, um sich zu entwickeln und eine Persönlichkeit zu entfalten. Kinder und Ju- gendliche haben ein Recht darauf, dazu von der Gesellschaft, in der sie leben, die nötige Unterstüt- zung zu erhalten. Dies beinhaltet z.B. auch ein Recht auf Ausgleich von gesundheitlichen Armutsrisiken. Kinder aus Familien mit niedrigem sozialem Status haben ein höheres Risi- ko, psychische und soziale Verhaltensauffälligkeiten zu entwickeln (z.B. ADHS oder Anorexie), leiden häufiger an Adipositas, sind stärker Lärmbelastungen oder Pas- sivrauchen ausgesetzt, nehmen seltener ärztliche Leis- tungen in Anspruch und haben eine geringere Chan- ce, Gesundheitskompetenz zu entwickeln (BZgA 2013). Das therapeutische Team kann diesen Herausforderun- gen nicht allein, sondern nur mit Hilfe der Kommunen und anderer sozialer Träger begegnen. Früherkennung und Prävention sind nur in Kooperation mit Kinderta- gesstätten, Schulen oder Jugendämtern möglich. Ärzt- liche Pflicht ist es, nicht nur das einzelne Kind gut zu versorgen, sondern auch auf strukturelle Probleme für Gruppen von Kindern hinzuweisen und an ihrer Bewäl- tigung mitzuwirken.
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