KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021

34 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L 01 / 2021 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ serungen des Kindes können vielerlei Gründe haben. Sie unkritisch zu akzeptieren, wäre fahrlässig. Damit der Kindeswille als moralisch bedeutsam gelten kann, müssen bestimmte Kriterien gegeben sein. Wiesemann und Peters (2013) haben den berücksichtigungsfähi- gen, qualifizierten Kindeswillen so definiert: «Beachtlicher Kindeswille: die nachdrückliche Mei- nungsäusserung des Kindes, die wiederholt vorge- tragen wird, für das Kind eine besondere emotionale Bedeutung hat und deren Nichtbeachtung die Selbst- achtung des Kindes untergraben würde.» Die Selbstachtung des Kindes wird durch demütigen- de, das Kind als Person nicht respektierende Verhaltens- weisen untergraben, also etwa wenn ein Kind, das sich verzweifelt mit Händen und Füssen gegen eine Mass- nahme wehrt, mit Gewalt dazu gezwungen wird, diese zu tolerieren. Äussert ein Kind eine solche qualifizierte Willensäusserung, müssen in jedem Fall Massnahmen zum Interessensausgleich unternommen werden, die der subjektiven Bedeutung der Entscheidung für das Kind Respekt zollen. In solchen Fällen sollte das medi- zinische Personal die Gründe für die Verweigerung er- kunden und nach Kompromissen suchen, die es dem Kind möglich machen zu kooperieren. Dies setzt ein auf das Kind und seine Bedürfnisse ausgerichtetes medizini- sches Setting voraus. Grundsätzlich problematisch ist je- denfalls die – auch empirisch nachgewiesene – Tendenz von Ärzten, die Kompetenz von Kindern und Jugendli- chen nur dann als gegeben anzusehen, wenn diese mit ihrer eigenen Meinung übereinstimmen. muss jedoch infrage gestellt werden, wie das folgen- de Beispiel zeigt. Fallgeschichte 2 Eine zwölfjährige Patientin mit akut myeloischer Leukämie und Rezidiv ist über Jahre hinweg mit Chemotherapie behandelt worden. In der Folge leidet sie an einer schweren Herzinsuffizienz, die eine Herztransplantation erforderlich macht. Ob- wohl diese aller Voraussicht nach die einzig le- bensrettende Behandlung ist, lehnt das Mädchen die Transplantation ab. Sie erträgt das Kranken- haus nicht mehr und möchte nach Hause zu ihrer Familie. Befürworter einer Transplantation würden in einem sol- chen Fall auch den Willen eines selbstbestimmungsfä- higen Kindes oder Jugendlichen übergehen, weil das Recht des Kindes auf eine offene Zukunft es in einem solchen Fall gebietet, alle sinnvollen Massnahmen zur Lebensrettung zu unternehmen, auch gegen den Willen des Kindes. Doch ein Automatismus, demzufolge das Leben eines Minderjährigen immer wichtiger ist als an- dere das Kind betreffende moralische Werte und Rech- te, ist nicht gerechtfertigt. Der Respekt vor der Men- schenwürde, der Kindern und Jugendlichen ebenso wie Erwachsenen zusteht, erlaubt es auch nicht, zukünfti- ge Interessen stets höher zu gewichten als aktuelle In- teressen. Vielmehr muss im Einzelfall geprüft werden, was im Interesse Kindes ist. Ein Sonderfall des Selbstbestimmungsrechts ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die zu- künftige Entwicklung des Kindes kann auch gefährdet sein, wenn gegen das Recht auf informationelle Selbst- bestimmung verstossen wird, wenn also beispielswei- se eine genetische Diagnostik beim Kind durchgeführt wird, die für das Kind selbst bedeutungslos ist, die aber das Recht auf Nichtwissen des zukünftigen Erwachse- nen infrage stellt und ggf. sogar stigmatisierenden Cha- rakter hat. Laut Gendiagnostikgesetz dürfen die Sor- geberechtigten in solche Diagnostik nicht einwilligen. Kindeswohl Die ethischen Prinzipien des Wohltuns und Nichtscha- dens haben sich in der Kinderheilkunde und Jugendme- dizin am Begriff des Kindeswohls auszurichten. Im an- gelsächsischen Raum spricht man von «best-interest standard» (Kopelman 2005). Den Sorgeberechtigten ob- liegt es vorrangig, das Kindeswohl zu fördern. Auch me- dizinische Massnahmen müssen sich daran orientieren. In das Kindeswohl fliessen verschiedene Aspekte ein. Dazu zählen die körperliche Unversehrtheit ebenso wie das psychische, soziale und spirituelle Wohlerge- Partizipation von Kindern und Jugendlichen in Entscheidungen: ■ Informed consent: Einwilligung nach Aufklärung in eine Massnahme, in der Regel als doppelte Einwilligung von Minderjährigem und Sorgeberechtigtem. Einwilligungsfähigkeit ist spätestens ab dem 10. Lebensjahr zu prüfen. ■ Informed assent: Zustimmung nach Aufklärung zu einer Massnahme, sollte bei nicht-einwilligungsfähigen Minderjährigen immer gesucht werden. Im Fall von fremdnütziger Forschung muss die Zustimmung eingeholt werden. ■ Informed dissent: qualifizierte Ablehnung von/Veto gegen eine Massnahme nach Aufklärung bei nicht-einwilligungsfähigem Minderjährigen, sollte immer Massnahmen zur Förderung der Kooperationsbereitschaft des Minderjährigen und die Prüfung alternativer Vorgehensweisen nach sich ziehen. Im Fall von fremdnütziger Forschung ist das Veto bindend. Einige Ethiker vertreten die Ansicht, der Kindeswille, das kindliche Veto und sogar die selbstbestimmte Entschei- dung eines Kindes oder Jugendlichen könnten über- gangen werden, wenn es sich um lebensbedrohliche Erkrankungen handele (Ross 2009). Diese Faustregel

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