KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021
33 01 / 2021 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ Ethische Prinzipien Selbstbestimmung Kinder und Jugendliche werden oft pauschal wie nicht- einwilligungsfähige erwachsene Patienten behandelt. Das wird ihnen jedoch je nach Situation nicht gerecht (Baines 2008). Selbst wenn jüngere Kinder im rechtli- chen Sinn nicht-einwilligungsfähig sind, unterscheidet sich ihre Situation doch deutlich von beispielsweise der von Patienten im Koma, denn sie nehmen in der Re- gel aktiv am Geschehen teil. Weisen ältere Kinder und Jugendliche die Fähigkeit zur Selbstbestimmung auf, muss diese berücksichtigt werden. Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ist gegeben, wenn ein Betroffener in der Lage ist, Wesen, Tragweite und Bedeutung ei- nes Eingriffs zu verstehen und seinen Willen danach zu bestimmen. Sie setzt also ein gewisses Verständnis der Krankheit und ihrer Prozesse sowie der Auswirkungen ihrer medizinischen Behandlung voraus. Dies ist nach juristischer Auffassung in der Regel ab einem Alter von 16 Jahren, in Einzelfällen aber auch schon deutlich frü- her gegeben. Empirische Untersuchungen haben ge- zeigt, dass chronisch kranke Kinder schon etwa ab dem 10. Lebensjahr ein gutes Verständnis von Krankheits- prozessen erlangen und die nötige Reife und Erfahrung haben können, die Auswirkungen von therapeutischen Massnahmen zu verstehen und einzuschätzen (Peters 2013). Die kognitive Reife allein ist nicht das dabei aus- schlaggebende Kriterium, mindestens ebenso wichtig ist die emotionale Reife und insbesondere die Fähigkeit, zu sich selbst und den eigenen Erfahrungen eine Aus- senperspektive einnehmen zu können. des nicht automatisch zugunsten der elterlichen Ent- scheidung übergangen werden. In höchstpersönlichen Fragen wird die Entscheidung des Minderjährigen das grössere Gewicht haben. Dies gilt beispielsweise für minderjährige Mädchen, die gegen den Willen ihrer Eltern ein orales Kontrazeptivum wünschen oder eine Abtreibung durchführen lassen wollen. Das Gewicht verschiebt sich mehr und mehr zugunsten elterlicher Entscheidung, wenn das Kind nicht die Kriterien der Selbstbestimmungsfähigkeit aufweist. Doch auch in diesem Fall ist die Meinung des Kindes nicht unerheb- lich, denn das Recht auf Partizipation, d.h. auf Teilhabe an Entscheidungsprozessen, gilt auch schon für nicht selbstbestimmungsfähige Minderjährige. Die UN-Kinderrechtskonvention fordert in § 12 zur Be- rücksichtigung des Kinderwillens Folgendes: «(1) Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenhei- ten frei zu äussern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Al- ter und seiner Reife.» Die Kinderrechtskonvention hat den Status einer Men- schenrechtserklärung. Das nicht selbstbestimmungsfähige Kind hat ein Recht darauf, bei der Entwicklung seiner Selbstbestimmungs- fähigkeit nach Kräften unterstützt zu werden. Dies ist nur möglich, wenn Kinder mit Respekt behandelt und schon frühzeitig als Partner in Entscheidungen einbe- zogen werden. Priscilla Alderson unterscheidet folgen- de vier altersbezogene Stufen kindlicher Partizipation: die Einbeziehung durch 1. Information des Kindes, 2. Anhören der Meinung des Kindes, 3. Einfluss der kindlichen Meinung auf die Entscheidung und 4. selbstbestimmte Entscheidung (Alderson 2008). In der Regel muss die ärztliche Aufklärung so gestaltet sein, dass die Zustimmung des Kindes (engl.: assent) zusätzlich zur Einwilligung der Sorgeberechtigten ge- sucht wird. Umstritten ist, in welchem Masse dem nicht selbstbestimmungsfähigen Kind ein Vetorecht (engl.: dissent) zusteht (Rothärmel 2004). In einer repräsenta- tiven Befragung niedersächsischer Kinderärztinnen und Kinderärzte sagten immerhin 35 Prozent der Befrag- ten, sie würden kein Kind ab dem Schulkindalter zu ei- ner Behandlung zwingen (Wiesemann u. Peters 2013, S. 28). In der Tat sind aufwendige Therapieverfahren ohne die Kooperation des Kindes kaum durchzuführen. Dennoch muss genauer qualifiziert werden, was unter einem kindlichen Veto zu verstehen ist. Unwillensäus- Die Gruppe der Kinder und Jugendlichen zählen zu den sogenannten vulnerablen Gruppen, die einem erhöhten Risiko von Schädigung ausgesetzt sind, weil sie weniger als andere Personengruppen in der Lage sind, ihre eigenen Interessen zu verteidigen, und ihre Bedürfnisse leichter übergangen werden können. Sie bedürfen deshalb eines besonderen Schutzes. Wie bei jeder anderen vulnerablen Gruppe wächst allerdings dadurch auch die Gefahr einer Bevormundung im vermeintlichen Interesse des Minderjährigen. Kann das Kind sein eigenes Verhalten kritisch reflektieren und über Verhaltensalternativen nachdenken? Ist Selbstbestimmungsfähigkeit gegeben, muss die Ein- willigung des Kindes zu medizinischen Massnahmen gesucht werden. Dabei wird man im Regelfall das Ver- fahren der doppelten Einwilligung anwenden: Neben der Einwilligung des Kindes wird auch die Einwilligung der Sorgeberechtigten eingeholt. Sind Kind und Eltern unterschiedlicher Meinung, darf die Meinung des Kin-
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