KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021
32 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L 01 / 2021 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ Fallgeschichte 1 Ein zehnjähriger Junge wird wegen einer schwer- wiegenden Form des Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) für einige Wo- chen stationär in der Kinder- und Jugendpsychi- atrie aufgenommen. Die Eltern erläutern dem behandelnden Arzt, dass bei dem Jungen in der nächsten Woche ein elektiver Eingriff zur Korrek- tur abstehender Ohren vorgesehen sei, der nicht verschoben werden könne. Es wird vereinbart, den Jungen für die Operation kurzfristig auf die be- nachbarte chirurgische Station zu verlegen. Wäh- rend des ersten therapeutischen Gesprächs mit dem Kind kommt die Rede auch auf diesen Ein- griff. Überraschenderweise erklärt der Zehnjährige dem Arzt, seine Ohren hätten ihn noch nie gestört. Er benötige eigentlich keine Operation. Seine El- tern hätten das so entschieden. Patientinnen und Patienten unter 18 Jahren haben als rechtliche Stellvertreter die Sorgeberechtigten, die in ärztliche Eingriffe einwilligen und mit denen in der Re- gel der Behandlungsvertrag abgeschlossen wird. Solange das behandelte Kind nicht selbstbestimmungsfähig ist, tragen die Eltern die Verantwortung für die gesundheit- liche Entwicklung ihres Kindes und willigen in medizini- sche Massnahmen ein. Doch was soll geschehen, wenn Eltern und Kind unterschiedliche Wünsche äussern, ins- besondere dann, wenn der/die Minderjährige noch nicht als selbstbestimmungsfähig gelten kann? Massstab des elterlichen Vertretungsrechts ist das Kindeswohl. Dieser Begriff ist allerdings in hohem Masse auslegungsbedürf- tig und kann auf unterschiedliche Art und Weise ver- standen werden. Im vorliegenden Fall wollen die Eltern ihrem Kind eine Stigmatisierung wegen seiner abste- henden Ohren ersparen, vermutlich da ihr Kind wegen der Symptome des ADHS ohnehin soziale Nachteile hat. Doch aus der subjektiven Sicht des Kindes sind die ab- stehenden Ohren gar kein Problem. Der Junge fühlt sich weder gehänselt noch benachteiligt. Welche Auslegung des Kindeswohls zählt in diesem Fall? Die objektiv nachvollziehbare Sicht der Eltern, die noch dazu zukünftige Entwicklungen mit in Be- tracht zieht, oder die subjektive Wahrnehmung des Kindes? Die Perspektive des Kindes darf in einem sol- chen Fall jedenfalls nicht einfach übergangen wer- den. Dass Eltern und Kind in diesem Fall unterschied- liche Ansichten über das Kindeswohl haben, tritt überdies nur zu Tage, weil sich einer der beteiligten Ärzte für die Ansichten des Kindes interessiert. Aus Gewohnheit oder weil es viel Arbeit macht, sehen Or- ganisationsprozesse in Arztpraxen und Krankenhäu- sern oft gar nicht vor, Kinder und Jugendliche syste- matisch in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Gerade vulnerable Gruppen, wie in diesem Fall Kinder und Jugendliche, benötigen deshalb standardisierte Inklusions-Prozesse, die dafür sorgen, dass ihnen ihr Recht auf Partizipation nicht systematisch vorenthal- ten wird. In der Kinderheilkunde und Jugendmedizin sind die in der Medizinethik üblicherweise verwendeten ethi- schen Prinzipien der Selbstbestimmung, der Wohltuns und Nichtschadens sowie der Gerechtigkeit in hohem Masse auslegungsbedürftig. Die Sichtweisen und In- teressen des betroffenen Kindes, der Sorgeberechtig- ten sowie der Familie im weiteren Sinne müssen da- bei in Betracht gezogen werden, denn Kinder sind für ein gutes Gedeihen auf ihre familiären Beziehungen angewiesen. Ärztinnen und Ärzte sind deshalb bei der Entwicklung der therapeutischen Ziele mehreren Interessensparteien gegenüber rechenschaftspflich- tig. Konfliktfälle können selten allein durch Berufung auf die Selbstbestimmung des Patienten gelöst wer- den. Stattdessen stehen im Interesse des Kindes gute menschliche Beziehungen im Vordergrund. Ein Interes- sensausgleich muss angestrebt werden (Dörries 2013). Dabei ist allerdings die Gefahr gross, dass die Kinder und Jugendlichen, um die es eigentlich geht, ins Hin- tertreffen geraten. Deshalb wird mittlerweile mehr und mehr Gewicht darauf gelegt, das Kind als eigen- ständiges, moralisch relevantes Subjekt in Entschei- dungsprozesse einzubeziehen (Carnevale 2004; Gie- singer 2007; Schickhardt 2012; Wiesemann 2016b). Wir reproduzieren das folgende Kapitel mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlags. Wiesemann, Claudia, «Ethik in der Kinderheilkunde und Jugendmedizin» erschienen in: Georg Marckmann (Hrsg.), «Praxishandbuch Ethik in der Medizin». Medizinische Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin (2015) S. 313–325 Ethik in der Kinderheilkunde und Jugendmedizin Prof. Dr. Claudia Wiesemann PROF. DR. CLAUDIA WIESEMANN INSTITUT FÜR ETHIK UND GESCHICHTE DER MEDIZIN, UNIVERSITÄTSMEDIZIN, D-GÖTTINGEN Korrespondenzadresse: cwiesem@gwdg.de
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