KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021
31 01 / 2021 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ schnelleren Lösung zur Beherrschung der Pandemie ein Problem. Dies geht auf Kosten der Sicherheit, da die Wahrscheinlichkeit wächst, dass Fehlinformationen oder unzureichend getestete Medikamente und Impf- stoffe einen Schaden anrichten. In Bezug auf die kon- krete Frage scheint mir beachtet werden zu müssen, dass bei Kin- dern der individuel- le Nutzen einer Imp- fung aufgrund des geringeren Risikos ei- nes schweren Erkran- kungsverlaufs um ein Vielfaches geringer ist als bei älteren und vor allem hochbetagten Er- wachsenen. Allein um möglicherweise – wir bewegen uns ja in ei- nem Feld hoher Unsi- cherheit – schneller eine Herdenimmunität zu er- zielen, erscheint mir die Abweichung jahrzehn- telang erarbeiteter For- schungsstandards nicht gut gerechtfertigt. Ge- rade für die in Bezug auf alle gesundheitli- chen Belange beson- ders schützenswerten Kinder sollte daher mei- nes Erachtens nach aktuellem Stand der Wissenschaft die bestmögliche Abschätzung von Effekten, unerwünschten Nebenwir- kungen und Langzeitfolgen einer COVID-19-Impfung den Vorrang vor einer schnelleren Bereitstellung eines Impfstoffes haben. Eine Impfpflicht gegen COVID-19 ist nicht geplant. Dürfen aber Arbeitgeber zum Beispiel Spitäler, Arztpraxen die Arbeit am Patienten für Ungeimpfte verbieten? Auch zu dieser Frage hat sich die Nationale Ethikkom- mission der Schweiz bereits 2018, der Deutsche Ethikrat im Jahr 2019 allgemein geäussert. Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats speziell zu Corona ist vor eini- gen Tagen veröffentlicht worden, befasst sich jedoch nicht mit dieser konkreten Fragestellung. Die Stellung- nahme der Nationalen Ethikkommission der Schweiz steht aktuell kurz vor der Veröffentlichung. Generell kann ich zu dieser Abwägung zu diesem Zeitpunkt zum einen sagen, dass Angehörigen in Gesundheitsbe- rufen zwar auch über ihr eigenes Leben und medizini- sche Präventionsmassnahmen, die sie eingehen möch- ten, entscheiden können müssen, ihnen aber zumindest ethisch besondere Verantwortung zukommt. Dies be- dingt jedoch nicht unbedingt die Rechtfertigung einer Impfpflicht und von arbeitsrechtlichen Sanktionen. Der Deutsche Ethikrat hat sich 2019 – mit der Gegenstim- me einer Ärztin – in Bezug auf bestimmte Infektionen für eine Impfpflicht für Berufsgruppen im Gesundheits- wesen und tatsächlich auch in Ausnahmefällen für ein Tätigkeitsverbot ausgesprochen. Für COVID-19 wurde dies bis anhin aus verschiedenen Gründen – rechtlicher, ethischer und medizinischer Art in der Form nicht ge- fordert. Es ist zum einen unklar, ob eine Impfung tat- sächlich auch das Ansteckungsrisiko minimiert – trotz aktueller dahingehender erster Verlautbarungen ist die Evidenzbasis dazu, so scheint mir, schwach. Es gibt an- dere, mittlerweile gut etablierte Möglichkeiten, Dritte zu schützen, sodass ein Arbeitsverbot für Ungeimpfte insofern nicht verhältnismässig erscheint. Zudem gibt es auch unter Gesundheitsfachpersonen Menschen, die entweder aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können oder nach Impfung nicht immun sein werden. Inwiefern wird die öffentliche Impfdebatte im Rahmen der Corona-Pandemie einen Einfluss haben auf das Impfverhalten in der Pädiatrie? Was meines Erachtens – dies zeigt auch dieses Inter- view – der Fall sein wird, ist, dass die Debatte für und gegen Impfungen, deren wissenschaftliche Basis und deren ethische und rechtliche Grundlagen generell in- tensiver, und mir scheint auch trotz des teils lautstark geäusserten Schwarz-Weiss-Denkens und vermeintlich eindeutiger Urteile für oder gegen die Sinnhaftigkeit von Massnahmen der öffentlichen Gesundheit durch- aus differenzierter als zuvor geführt wird. Dies kann im aufklärerischen Sinne nur gut sein. Und trotz mancher Zentrifugalkräfte scheint mir die Wichtigkeit solidari- schen Denkens und Handelns von einem starken öf- fentlichen Gesundheitswesen durchaus prominenter zu sein als zuvor. Auch das kann eigentlich dem wesentli- chen Desiderat – durch Impfung von Kindern nicht nur dem eigenen Kind, sondern vor allem auch immunge- schwächten Kindern, die sich nicht selbst schützen kön- nen, etwas Gutes zu tun – nur Vorschub leisten. KIS: Wir bedanken uns herzlich für diesen komple- xen und wichtigen Gedankenaustausch. ■ Copyright: Andrea Landolt / Tafelwart.ch
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