KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021

30 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L 01 / 2021 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ der juristische Weg auf Seiten der Ärztin eingeschlagen werden, d.h. eine Gefährdungsmeldung an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, bei unmittelbarer Ge- fahr sogar unter Erwägung eines superprovisorischen Obhutsentzugs, d.h. des temporären Entzugs der Aus- übung des Aufenthaltsbestimmungsrechts der Eltern für das Kind. Dies sollte jedoch – da die Eltern trotz ei- ner von aussen unvernünftigen, das Kind gefährden- den Entscheidung für das Kindeswohl nicht nur extrem wichtig sind, sondern auch den Boden des Vertrauens in seine Welt bedeuten – mit grossem Fingerspitzenge- fühl erwogen werden. Zunächst sollte versucht werden, die Eltern in diesem Fall von der unmittelbaren Bedro- hung der Gesundheit des Kindes und der Wichtigkeit, in dieser Situation zu impfen, zu überzeugen. Dies gelingt – wie grundsätzlich in der Medizin – vor allem dann, wenn in der Kommunikation mit den Eltern auch in die- sem Fall eine «Moralisierung» und Verurteilung best- möglich vermieden und die Motivation der Eltern, das Beste für ihr Kind zu wollen, zunächst explizit gewürdigt und anerkannt wird, dass über den Nutzen und Scha- den verschiedener Impfungen gestritten werden kann. Danach sollte aber deutlich gemacht werden, dass sich die Situation ihres Kindes etwas anders darstellt, da das unmittelbare Risiko für eine schwere bis tödliche Erkran- kung nicht ausgeschlossen ist. Sollten die Eltern wei- terhin eine Impfung ablehnen, würde ich auf der Basis der mir vorliegenden Daten die Beschreitung des Behör- denweges in dem Fall eher für unverhältnismässig hal- ten. Sollte dieser doch beschritten werden wollen, muss offengelegt werden, dass die Möglichkeit besteht, die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde einzuschalten und dies erwogen wird, man jedoch, wenn es irgend geht, doch zum Konsens gelangen möchte, das für das Kind Richtige zu tun, in dem Fall zu impfen. Wir Praxispädiater erwirtschaften einen Grossteil unserer Medikamentenumsätze mit den Impfungen, beeinflusst das nicht auch unsere Impfberatung? Es wäre dem derzeitigen Stand der Forschung von strukturellen Einflüssen und finanziellen Anreizen auf das Verhalten von Menschen nicht redlich, zu behaup- ten, dass dies nicht der Fall wäre. Die im ambulanten Schweizer Gesundheitswesen verankerte Praxis, dass Arztpraxen einen nicht geringfügigen Anteil durch den Verkauf von Medikamenten und Impfstoffen erwirt- schaften, ist ethisch aus gutem Grund umstritten. Dies heisst natürlich nicht, dass die meisten Pädiaterinnen nicht dem Berufsethos entsprechend fair, professionell und wertschätzend Eltern darin unterstützen, eine gute Entscheidung zu fällen. Finanzielle Anreize führen je- doch auch dann zu einer Beeinflussung, wenn wir dies selbst für uns ablehnen. Daher bräuchte es in diesem Punkt tatsächlich eine Änderung des ambulanten Finan- zierungssystems, um diesen Faktor zu minimieren. Seit März gilt die Masern-Impfpflicht in Deutsch- land für Schulen und Kindertagesstätten. Eine Familie kam extra drei Stunden mit dem Auto in die Schweiz, um ihren Kindern einen Masern- Einzelimpfstoff verabreichen zu lassen, weil es in ihrem Wohnort nur eine MMR-Impfung gäbe. Ist das korrekt, so zu impfen? Hier kann man über verschiedene Dinge sprechen: über die Frage des – ein nicht sehr schönes Wort – «Medi- zintourismus» in einer Welt der ausserhalb von Corona weit offenen Grenzen und unterschiedlichen Gesetzge- bungen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen selbst in westeuropäischen Staaten, der «moral complicity», der «Komplizenschaft», welche durch das eigene per- missive Handeln einer möglicherweise unmoralischen Praxis zum Durchbruch verhilft, aber auch diejenige der Sinnhaftigkeit einer Impfpflicht. Die neu eingeführ- te Masern-Impfpflicht ist sowohl ethisch als auch ju- ristisch in Deutschland hoch umstritten. Der Deutsche Ethikrat hat sich – trotz Betonung der moralischen Sinn- haftigkeit einer Masernimpfung – 2019 dezidiert gegen eine gesetzliche Impfpflicht ausgesprochen, eine Kla- ge ist beim Bundesverfassungsgericht hängig und es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass diese «einkassiert» wird. Juristisch sieht das Epidemiengesetz der Schweiz ebenfalls keine Impfpflicht vor. Auch die Schweizerische Nationale Ethikkomission im Bereich der Humanmedi- zin hat sich 2018 im Rahmen des Influenza-Pandemie- plans des BAG ebenfalls aus ethischen Gründen gegen eine Impfpflicht ausgesprochen und arbeitet gerade an einer entsprechenden Stellungnahme zur Impfung ge- gen das Coronavirus. Man kann zwar festhalten, dass in dem oben geschil- derten Fall keine Behandlungspflicht und in gewisser Hinsicht auch ein Gerechtigkeitsproblem besteht, da sich möglicherweise nicht alle Eltern unter den aktuel- len Umständen die Fahrt nach und Behandlung in der Schweiz leisten oder diese bewerkstelligen können. Ich sehe jedoch ansonsten keine gravierenden Gründe, die- sem Wunsch nicht nachzukommen. Würde ein Pädiater dem Wunsch von Eltern nachkommen, eine tatsächlich unstrittig ethisch problematische oder gegen die Ge- setzgebung eines Nachbarlandes verstossende Behand- lung einzugehen, sähe die Beurteilung anders aus. Moderna hat im Dezember 2020 angekündigt, eine Impfstudie (TeenCove) mit Kindern zwischen 12 und 17 Jahren durchzuführen. Ist auch bei Kin- dern eine verkürzte Studiendauer denkbar und wie ist das ethisch vertretbar? Forschungsethisch gesehen ist die aktuelle Tendenz, bestehende Forschungs- und Publikationsstandards zu- gunsten einer schnelleren Bereitstellung von Informati- onen, Medikamenten und Impfstoffen zu vernachläs- sigen, trotz des verständlichen Wunsches nach einer

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