KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021

29 01 / 2021 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ Dürfen wir als Praxispädiater auswählen, nur Familien zu behandeln, die ihre Kinder nach Impfplan impfen lassen? Obgleich Arztpraxen auch so etwas wie kleine Unter- nehmen sind und man grundsätzlich in Ausnahme- fällen die Behandlung eines Patienten ablehnen kann, verpflichten uns das Berufsethos und konkret die Be- rufsordnung der FMH Ärztinnen und Ärzte, nicht allein dem individuellen Patienten, sondern auch der Bereit- stellung der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu dienen. Die Möglichkeit der Ablehnung einer Be- handlungsübernahme bei allen Kindern, die nicht nach Impfplan geimpft sind, würde diesem Versorgungsauf- trag nicht gerecht und könnte insbesondere in dünn besiedelten Gegenden dazu führen, dass diese Kinder (noch) stärker unterversorgt sind. Daher kann man die- se Frage klar mit nein beantworten. Sollen wir ein Schulkind, welches sich vehement gegen eine Spritze wehrt, mit mehreren Leuten festhalten, um es trotzdem zu impfen? In den letzten Jahrzehnten ist, wesentlich bedingt durch die bereits 1989 verabschiedete UN Kinderrechtskon- vention, die 1997 auch in der Schweiz ratifiziert wurde, das Bewusstsein gestiegen, dass Kinder in ihren Rech- ten und Bedürfnissen ernst genommen werden müs- sen. Dies betrifft konkret auch Willensäusserungen ei- nes minderjährigen Kindes. In der Schweiz wird bereits Kindern zugestanden, je nach medizinischer Frage- stellung allein über medizinische Behandlungen zu ent- scheiden, ohne dass die Eltern formal zustimmen müs- sen. Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit, das Abwehrrecht gegen Verletzungen ist ein sehr hohes Rechtsgut. Auch haben wir in der Kinderpsychologie wie auch in der Medizinethik viel dazugelernt, was die Wichtigkeit der Anerkennung des Kindes als einen «mo- ralischen» Akteur betrifft, der fundamental auf Vertrau- en angewiesen ist und durch Täuschung oder erzwun- gene Massnahmen zutiefst verletzt werden kann, auch wenn es «nur ein kleiner Piks» ist. Willensäusserungen eines Kindes sind daher immer ernst zu nehmen. Je hö- her ein unmittelbarer Schaden für ein Kind und je klei- ner der Eingriff – anders gesagt je eindeutiger das Nut- zen-Risikoverhältnis für das betroffene Kind – desto stärker sind Handlungen auch gegen den geäusserten Willen eines Kindes gerechtfertigt. Die Verhältnismäs- sigkeit der Massnahmen muss in einem solchen Fall je- doch höchste Priorität haben. Die Durchführung einer Routineimpfung gegen den massiven Widerstand eines Schulkindes durch Festhalten mit mehreren Erwachse- nen erfüllt diese Bedingungen denke ich nicht. Hier sind wir verpflichtet, auch wenn dies «Zeit kostet», mit dem Kind, gegebenenfalls unter Hinzuziehung seiner Eltern, zu eruieren, was die Gründe für diesen starken Wider- stand sind, und mit dem Kind gemeinsam zu überle- gen, ob und wie eine Impfung doch möglich sein kann. Da dem Kind in aller Regel durch eine eventuell spätere Routine-Impfung keine unmittelbare Gefahr droht, er- scheint eine Verschiebung oder auch im Extremfall ein Aussetzen der Impfung in den meisten Fällen besser ge- rechtfertigt als die Durchführung gegen massiven Wi- derstand. In den allermeisten Fällen wird man durch die Stärkung der Vertrauensbasis und kindgerechte Erklä- rungen aber vermutlich auch zum Ziel kommen, ohne das Kind zu traumatisieren. Im Notfalldienst kommt ein kleines Kind, unge- impft, mit einer grossen Rissquetschwunde, die Eltern wollen keine Tetanusimpfung. Und nun? Tatsächlich stellt sich diese Situation aus verschiedenen Gründen etwas anders dar als im obigen Fall. Ein Klein- kind selbst kann nicht zustimmen, sodass die Eltern die gesetzlichen Stellvertreter des Kindes sind. Diese müs- sen sich bei ihren Entscheidungen primär am besten In- teresse, am Wohl ihres Kindes und mit zunehmendem Alter an dessen Willen orientieren. Ärztinnen und Ärz- te haben daher zwar nicht mehr, wie es immer noch häufig heisst, eine primäre Garantenpflicht gegenüber dem Kind. Jedoch sind sie berechtigt, in diese Entschei- dungsbefugnis der Eltern einzugreifen, je höher und wahrscheinlicher ein unmittelbarer Schaden bei einem urteilsunfähigen Kind durch Unterlassung einer me- dizinischen Massnahme zu erwarten ist. Im Falle der Verweigerung einer Tetanusimpfung bei einem unge- impften Kleinkind mit einer grossen Rissquetschwun- de ist daher genau dies medizinisch abzuwägen: Als wie hoch wird die Wahrscheinlichkeit eines unmittel- baren und schweren Schadens für den kleinen Patien- ten eingeschätzt? Nach meiner Kenntnis sind Tetanusinfektionen in unse- ren Breiten trotz ubiquitärem Vorkommen des Keimes extremst selten, vor allem bei Kindern, dies auch auf- grund der sehr hohen Durchimpfrate. Die Tetanuser- krankung bei ungeimpften Menschen verläuft jedoch häufig sehr schwer und auch tödlich. Eine tiefe Riss- quetschwunde bei einem ungeimpften Kind bedeutet daher, so scheint mir, kein absolut vernachlässigbares Risiko für das Kind. In einem solchen Fall kann prinzipiell DR. MED. IRMELA HEINRICHS LEITERIN REDAKTIONS- KOMMISSION, USTER Korrespondenzadresse: iheinrichs@hin.ch Interview mit Prof. Dr. med. Dipl. Soz. Tanja Krones, Leitende Ärztin Klinische Ethik, Geschäftsführerin Klinisches Ethikkomitee, Universitätsspital Zürich ETHIK und IMPFEN

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