KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021
27 01 / 2021 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ flikts, als vielmehr im Erkennen eines Konflikts zwischen zwei unterschiedlichen Theorien mit Blick auf dassel- be Problem. Argumentiert nämlich jemand utilitaristisch (die Lebensqualität wird sehr schlecht sein) und jemand deontologisch (wir sind verpflichtet, die lebenserhalten- den Massnahmen durchzuführen), so sprechen beide Seiten letztlich aneinander vorbei und können sich des- halb in der Argumentation gar nie finden. Einen Aus- weg bietet dann die Prinzipien-Waage. Prinzipien-Waage Die Prinzipien-Waage bedient sich dazu eines Tricks: Sie lenkt den Streit und das Unverständnis zwischen abso- luten Pflichten und unumstösslichen Feststellungen ei- ner inakzeptablen Konsequenz hin zu Prinzipien in der Mitte (sogenannte Prinzipien mittlerer Reichweite). Für den ethischen Notfallkoffer reichen (gemäss dem be- kannten Werk der beiden US-amerikanischen Bioethi- kern Beauchamp und Childress) meist vier Prinzipien: 1. Nichtschadens-Prinzip, um Schaden durch die Thera- pien zu vermeiden 2. Prinzip Gutes zu tun, um Möglichkeiten, die effektiv helfen, anzuwenden 3. Prinzip der Selbstbestimmung bzw. Autonomie, um eine urteils- und handlungsfähige Person in ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen 4. Prinzip der Gerechtigkeit, um eine Entstehung oder Zunahme von Ungerechtigkeit zu vermeiden. Für eine konkrete Situation legt man nun jedes Prin- zip auf die Waage und misst dabei ganz konkrete As- pekte: Was wünschen sich Eltern für ihr Kind «Gutes» und welcher Schaden soll dabei vom Kind abgewendet werden? Ist ein Kind in Bezug auf eine Entscheidung urteilsfähig und kann es dadurch ein hohes Mass an Partizipation und Autonomie beanspruchen? Wie kann ich urteilsunfähige Kinder und Jugendliche so weit wie möglich in Therapien, Gespräche und Entscheidungen einbeziehen? Wie verteilt man möglichst gerecht (e.g. transparent) knappe Ressourcen oder macht einen un- gerechten Mangel an Ressourcen sichtbar? Damit der Konflikt zwischen Pflichten und Folgen nicht einfach in die Prinzipien übertragen wird (meist Gutes- Tun vs. Nicht-Schaden), sollte die Waage niemals ohne den Rest des ethischen Notfallkoffers angewendet wer- den. Auch bei einem ethischen Notfall kann dabei ein Algorithmus (analog zum PALS in medizinischen Notfäl- len) nützlich sein. Der Shared Optimum-Algorithmus (SO-A) Kindeswohl, Shared Decision-Making und Kinderrechte wurden bisher in der ethischen Entscheidungsfindung und der Literatur nur unvollständig zueinander in Be- zug gebracht und angewendet. Basierend auf unserer eigenen Forschung entstand deshalb der sogenannte Shared Optimum-Ansatz, welcher mittlerweile an ver- schiedenen Kinderspitälern angewendet wird (Streuli et al. 2020). Vereinfacht gesagt hat der SO-A drei Teile und kann so mit dem ganzen ethischen Notfallkoffer auch auf die genannten und weiteren Fragen aus der kinder- ärztlichen Praxis angewendet werden: 1. Sichtbarmachen und Trennen der relevanten Fakten und Werte/Intuitionen 2. Klärung der Schadensgrenzen in Bezug auf unter- schiedliche Handlungsoptionen, die es nicht zu über- schreiten gilt 3. Förderung des Shared Decision-Making mit Blick auf das Kindeswohl innerhalb der gut begründeten Scha- densgrenzen. Bei den meisten Fragen wird jedoch schnell klar, dass es nicht immer eine einzige, schnelle Antwort gibt und eine solche vielleicht auch gar nicht immer braucht. Meistens hilft ein besseres Verständnis für die Situation und die Frage selbst. Für die nötige Musse in oder zwi- schen den gedrängten Konsultationen des Praxisalltags enthält der kleine Notfallkoffer deshalb vor allem etwas: Neugier und Freude am Entdecken neuer, interessanter Gedankengänge – sowohl bei uns selbst als auch bei unseren Patienten und Familien. ■ LITERATUR 1. Beckman, H. B., & Frankel, R. M. (1984). The Effect of Physician Behavior on the Collection of Data. Annals of Internal Medicine, 101(5), 692–696. 2. Beauchamp, T. L., & Childress, J. F. (2001). Principles of biomedical ethics. Oxford University Press, USA. 3. v. Engelhardt D. (2011). Ars longa, vita brevis: Historischer Hinter- grund und aktuelle Bedeutung des hippokratischen Aphorismus. Imago Hominis 18 (2)93–102. 4. Streuli, J. C., Michel, M., & Vayena, E. (2011). Children’s rights in pediatrics. European Journal of Pediatrics, 170(1), 9–14. 5. Streuli, J. C., Anderson, J., Alef-Defoe, S., Bergsträsser, E., Jucker, J., Meyer, S., Chaksad-Weiland, S., & Vayena, E. (2020). Combining the best interest standard with shared decision-making in paediat- rics – Introducing the shared optimum approach based on a qualita- tive study. European Journal of Pediatrics, 1–8.
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