KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021
26 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L 01 / 2021 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ In der Praxis hilft es, sich mit einem Team vorgängig über konkrete Grenzen zu einigen, innerhalb derer die Eltern und die Kinder sich mit ihren Werten und Vor- stellungen und der nötigen Unterstützung bewegen können. Wann kommt eine Dialyse bei einem komplex- chronisch kranken Kind infrage, unter welchen Um- ständen werden rituelle Beschneidungen erlaubt, wel- che Faktoren rechtfertigen einen Therapieverzicht bzw. eine Reanimation bei einem extrem Frühgeborenen? Werte-Fakten-Skalpell Wer nun denkt, Ethik sei ein Soft Skill oder blosse Kom- munikationskunst, sei gewarnt: Ethik kann auch blu- tig sein. Eines der wichtigsten Instrumente bei einem ethischen Notfalleinsatz ist nämlich das Skalpell, mit dem die Werte aus einer Schicht von vermeintlich rei- nen Fakten herausgetrennt werden. Werte sind als gut und wichtig empfundene Wesensmerkmale, die Nor- men und damit Sollens-Aussagen begründen. Fakten, wie beispielsweise ein Parameter im Blutbild, beschrei- ben einen objektiv feststellbaren Ist-Zustand. Was gemacht werden soll, folgt nicht allein aus Fak- ten, sondern immer auch aus Werten (e.g. Leben ist schützenswert oder das Kind soll nicht unnötig leiden). Wenn im Beispiel von Sepp Holtz das «schwerstbehin- derte Kind» genannt und im selben Satz eine Nieren- transplantation ausgeschlossen wird, dann kann dies gute Gründe haben. Eine schwere Behinderung und die damit verbundenen Narkose-Risiken sind Fakten. Aber es wäre ein sogenannter Sein-Sollen-Fehlschluss (auch naturalistischer Fehlschluss genannt), wenn man direkt aus den Fakten auf eine Sollens-Aussage (was gemacht werden soll) schliesst. Die Werte sind in der geschilder- ten Situation nicht offengelegt und bei Ärztin und Fami- lie möglicherweise unterschiedlich. Das Werte-Fakten- Skalpell hilft, den eigentlichen Konflikt zu verstehen und anzusprechen. Intuitions-Spiegel Ein unblutige Alternative zum Werte-Fakten-Skalpell ist der Intuitions-Spiegel. Um einen Sein-Sollen-Fehlschluss und einen daraus folgenden ethischen Konflikt zu ver- hindern, kann die Fachperson vor dem Griff zum SD-M- Stethoskop kurz in den Spiegel schauen und sich ihrer eigenen Intuition bewusst werden. Der Blick auf die ei- gene Intuition erlaubt einen indirekten Zugang zu den eigenen Werten und zur Erkenntnis, dass diese Werte subjektiv und damit individuell verschieden sein kön- nen; er hilft, mit einer grösseren Offenheit an einen ethischen Notfall heranzutreten. Gelegentlich reicht der Spiegel allein aber nicht aus. Moral-Schere Moral ist die Gesamtheit der Werte einer bestimm- ten Gesellschaft. Moral gibt uns in unsicheren Situati- onen Halt – ähnlich einem Gips, der Brüche heilt und Schwachstellen stützt. Der Fortschritt in der Medizin, aber auch der Kontakt mit anderen Gesellschaften und Wertvorstellungen verlangt Offenheit und Wachstum für neue Gedankengänge. Dabei kann der Moral-Gips schnell zu eng werden und schmerzhafte Druckstel- len erzeugen. Die Ethik ist dann auch eine Schere, mit der wir harte Moralschalen aufschneiden können. Aber Vorsicht, wer den Gips zu schnell weglässt, riskiert eine ethische Pseudoarthrose: den moralischen Relativismus. Nach dem Aufschneiden sind deshalb nicht selten noch Schienen oder Krücken als Schutz vor überstürzter Be- lastung notwendig und es ist ratsam, die Moral-Schere nicht allein und ohne Vorbereitung anzuwenden. Qua- si als moralisches Gipszimmer mit den nötigen Hilfsmit- teln dient beispielsweise das ethische Gespräch, wie es im «KomEth» des Kinderspitals Zürich angeboten wird. Theorien-Labor Die Auswahl an ethischen Theorien steht der Anzahl an Parametern auf mehrseitigen Laborzetteln in keins- ter Weise nach. Trotzdem gibt es auch in der Ethik so etwas wie das Blutbild-CRP und den Allergieschnell- test. Bei ethischen Notfällen in der kinderärztlichen Pra- xis reichen typischerweise drei Theorien, mit deren Hilfe man die Pathogenität einer ethischen Debatte erken- nen kann: den Utilitarismus, die Pflichtenethik und die Care-Ethik. Die drei Theorien sind nichts anderes als un- terschiedliche Perspektiven auf die gleiche Handlung. Während der Utilitarismus (auch Konsequentialismus genannt) nach den Konsequenzen einer Handlung fragt (z.B. wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit einer bleiben- den schweren Cerebralparese bei extremer Frühgeburt- lichkeit nach intensivmedizinischer Behandlung), richtet sich die Pflichtenethik (auch Deontologie genannt) nach einer allgemein gültigen Regel oder Prinzip (z.B. in du- bio pro vitae). Die Care-Ethik wiederum stellt die Be- ziehung, Interaktion und Fürsorge zu und mit anderen Menschen in den Vordergrund. Der eigentliche Sinn am Theorien-Labor liegt weniger in der Lösung eines Kon-
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