KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021
25 01 / 2021 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ der frühen Kindheit einen schweren bis aussichtslosen Stand hätte, bleibt sie aus soziokultureller Sicht durch- wegs diskussionswürdiger Gegenstand der Kindeswohl- debatte. Typischerweise hat das Kindeswohl vier Säulen: 1. den aktuellen Zustand und Willen des Kindes 2. die Meinung und Haltung der Eltern 3. das Wissen und Können der Medizin 4. die Perspektive des zukünftigen Menschen (basie- rend auf laufend aktualisierten Daten und Voraus- setzungen) Von keiner dieser Säulen sollte das Kindeswohlprinzip allein getragen werden. Vielmehr muss besonders bei gewichtigen und irreversiblen Entscheidungen wie bei einer Beschneidung oder der Reanimation eines extrem Frühgeborenen, das Kind stets in seiner Ganzheit und mit ganz konkreten Fragen aus allen vier Säulen im Mit- telpunkt stehen. Analog zum Sauerstoff und der Sauer- stoffmaske drückt man das Kindeswohl aber nicht ein- fach als Erstes auf das Kind (und seine Familie), sondern verschafft sich zuerst einen Gesamteindruck. Deshalb steht Kindeswohl eng mit dem nächsten Werkzeug in Verbindung. Shared Decision-Making-Stethoskop Sepp Holtz und Mascha Hochfeld erinnern im voraus- gegangenen Beitrag an die Bedeutung der Hörstun- de. Tatsächlich scheint das Zuhören nicht die heraus- ragende Stärke der typischen Medizinerin zu sein. So zeigten Beckmann und Frankel in ihrer vielzitierten Un- tersuchung von 1984, dass die Ärzte ihre Patienten in der Sprechstunde durchschnittlich nach 17 Sekunden unterbrachen. Nur eine kleine Minderheit der unter- brochenen Patientinnen erhielt danach die Möglich- keit, ihr eigentliches Anliegen noch auszuformulieren. Auch in späteren Studien zeigte sich keine deutliche Besserung (einzig, dass Assistenzärzte etwas später unterbrechen als erfahrene Kolleginnen). Nun könn- te man einwenden, dass die kinderärztliche Konsulta- tion schon für sich ein hochpotentes Heilmittel dar- stellt und als solches auch ohne langes Zuhören ihren Zweck erfüllt. Die «Kinderärztinnen-Pille» mit den typi- schen Inhaltsstoffen einer ritualisierten, problemorien- tierten Untersuchung und der mündlichen Zusammen- fassung und Einordnung der Situation lässt tatsächlich so einige Leiden innert Wochenfrist heilen. Die kinder- ärztliche Kunst zeigt sich aber natürlich gerade darin, Situationen, in denen beruhigende Worte anstelle von unnötigen Medikamenten ausreichen, von potenziell kritischen Situationen zu unterscheiden. «Potenziell kritisch» sind dabei nicht nur vital bedrohliche Krank- heiten, sondern ebenso ethische Konflikte. Statt der vorschnellen Anwendung der «Kinderarzt-Pille» ist da- bei der Griff zum Hörrohr bzw. dem Shared Decision- Making-Stethoskop angezeigt. Shared Decision-Making (SD-M) wurde erst in den letz- ten Jahren zu einem neuen Goldstandard, ist aber keine neue Erfindung. Im Kern ist SD-M bereits in den hippo- kratischen Aphorismen enthalten (Vita brevis, ars longa, occasio praeceps, experientia fallax, judicium difficile): Während Erfahrung trügerisch sein kann, gehört es zur ärztlichen Kunst, in schwierigen Entscheidungen immer auch die Patientin, ihre Angehörigen und die Umwelt miteinzubeziehen (v. Engelhardt 2011). Die Grundmaxi- me von SD-M ist dabei kinderleicht: luege, lose, …rede. Etwas detaillierter kann die Technik in acht Schritten zu- sammengefasst werden: 1. Vom Setting mit Frage nach Anwesenheit der rele- vanten Personen, klaren Zeitvorgaben und Vermei- dung von Störungen während dem Gespräch 2. …geht es über die Klärung der idealen Informations- form für das Kind und für Erwachsene und 3. …der Klärung der gewünschten Rolle von Kind und Eltern im Gespräch und Entscheidungsfindungs- prozess. 4. Mit einem Kind über eine Diagnose zu sprechen, soll- te nicht zufällig über das Gespräch mit den Eltern über das Kind erfolgen. Um Eltern und Kind rich- tig «abzuholen», muss deshalb zuerst gehört wer- den, was bereits bekannt ist, welche Erwartungen und Ängste vorhanden sind und 5. …welche Optionen aus Sicht der Familienmitglieder und aus Sicht der evidenzbasierten Medizin im Raum stehen. 6. Danach wechselt der Arzt vom Zuhörer zum Mode- rator und fasst die Evidenz zusammen, zeigt auf, was möglich ist und wo ggf. Grenzen vorhanden sind, ohne selbst zu (ver-)urteilen. 7. Erst jetzt findet eine Entscheidung statt, welche in- nerhalb der dargestellten Grenzen (dem sogenann- ten «shared optimum») weitgehend von den Eltern und bei Möglichkeit vom Kind (mit)bestimmt wird. 8. Jede Entscheidung ist nur so gut wie ihre Umsetzung. Im letzten Schritt wird deshalb nicht nur ein Plan, sondern auch dessen konkrete Umsetzung und re- gelmässige Überprüfung mit der nötigen Unterstüt- zung besprochen.
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