KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021
24 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L 01 / 2021 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ O b bei einer schweren Contusio moralis oder einer leichten Werte-Unverträglichkeit, Ethik ist ein fes- ter Teil der kinderärztlichen Praxis. Der ethische Notfall- koffer soll die Freude und deren konkrete Umsetzung in der Praxis, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, dafür mit um so mehr Leichtigkeit unterstützen. Ethik denkt lediglich über die Moral nach und hat somit nicht den Anspruch, die Wahrheit oder die einzig richtige Lösung zu kennen. Sie kennt aber ein paar Werkzeuge, um ethisch komplexe Situationen gezielt zu erfassen und eine Handlung bestmöglich zu begründen. Die folgen- de Sammlung ist deshalb eine Einladung an uns alle, sich auf der Suche nach guten Begründungen, gemein- sam mit unseren Patienten und deren Familien auf neue Gedankengänge einzulassen. 3-P-Kinderrechts-Verband Ein Verband schützt vor Verunreinigungen und weite- ren Verletzungen, erlaubt innerhalb von gewissen Gren- zen die Teilnahme am Alltag und fördert die Entwicklung von neuem Gewebe oder – als Gipsverband – das Zu- sammenwachsen von Knochen. Genauso verhält es sich mit den Kinderrechten: Zusammengefasst mit den 3 Ps bieten sie Schutz (Protection), entwicklungsentsprechen- de Teilnahme und Mitsprache (Participation) und eine angemessene Förderung und Unterstützung (Provision). Jeder Pädiater weiss bestens, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Aber was mittlerweile selbstverständ- lich ist, wurde und wird nicht immer und überall so ge- sehen und kann in der Praxis bei konkreten Fragen mit- unter eine grosse Herausforderung darstellen. Wie lasse ich ein Kind angemessen an einer Entschei- dung teilhaben? Ab wann brauche ich eine Einwilligung (informed assent) durch das Kind? Was, wenn das Kind und die Eltern unterschiedliche Meinungen haben? Viele der eingangs genannten Fragen der MPAs dre- hen sich um dieses Thema. Noch im 19. Jahrhundert war es in einigen Fabriken in England üblich, die Kin- der an die Maschinen zu ketten, damit sie von der Ar- beit nicht wegliefen, um spielen zu gehen. Abgesehen davon, dass ich heute bei meinen eigenen Kindern, um sie an Ort und Stelle zu behalten, statt Ketten das Tablet und Smartphone benutzen kann, hat sich mit der 1989 eingeführten UNO-Kinderrechtskonvention tatsächlich etwas ganz Grundsätzliches geändert: Das Kind wurde vom dekorativen oder ausgebeuteten Objekt zum Sub- jekt mit eigenen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Rech- ten. Der «3P-Kinderrechts-Verband» in unserem Kof- fer löst die Probleme noch nicht (die 3 Ps befinden sich ja häufig selbst im Konflikt zueinander), aber er bietet Halt und Haltung. Das heisst allgemein gesagt, alles was wir tun und entscheiden, sollte mit dem Kind als Sub- jekt und mit Blick auf die 3 Ps erfolgen. Und ganz kon- kret: Wenn wir mit den Eltern über das Kind (z.B. über seine psychischen Probleme) sprechen, sollten wir uns gut überlegen, ob wir erstens mit unbedachten Sätzen dem Kind damit nicht sogar schaden und zweitens uns immer auch für eine Möglichkeit einsetzen, um ange- messen mit dem Kind selbst zu sprechen bzw. ihm ent- sprechend der «Hörstunde» zuzuhören (vgl. auch unse- re frühere Ausgabe 2/2019, Themenheft Kinderbücher). Wenn wir andererseits ein Kind vor negativen Einflüs- sen schützen möchten (wie im Beispiel der MPAs beim Verbot von TikTok, dem forcierten Zähneputzen oder der gesunden Ernährung), sollten wir immer auch über- legen, wie wir das Kind – trotz oder mit schützenden, gut gemeinten Einschränkungen – fördern, stärken und gleichzeitig mitbestimmen lassen können. Kindeswohl-Sauerstoff Ähnlich wie der Sauerstoff ist auch das Kindeswohl vom ersten bis – in Situationen der Kinderpalliativmedizin – zum letzten Atemzug eine Grundvoraussetzung für jede kinderärztliche Handlung am Kind. Zwar haben Eltern im Alltag (auch in der Kinderarzt- praxis) für die Interpretation des Kindeswohls ein ho- hes Mass an Diskretion (das nachfolgende Interview mit Tanja Krones zeigt dies eindrücklich am Thema Impfen). Gelegentlich kann das Kindeswohl sogar den Interes- sen der Erwachsenen (bei Umzug für eine neue Arbeits- stelle) oder jenem der Geschwister (bei einer schweren Krankheit) bis zu einem gewissen Mass untergeordnet werden. Bei medizinischen Entscheidungen mit (poten- ziell) irreversiblen oder schmerzhaften Folgen muss hin- gegen das Kindeswohl stets im Zentrum der Überlegun- gen stehen. Eine medizinische Behandlung, die nicht im Kindeswohl erfolgt, gilt (trotz Einwilligung der Eltern) in unserem Gesetz als strafbare Körperverletzung. Aber die Bestimmung von Kindeswohl basiert nicht nur auf objektiven medizinischen Indikationen, sondern ebenso auf soziokulturellen und psychologischen Fak- toren. Während bei einer strikt medizinischen Definition von Kindeswohl das MPA-Beispiel der Beschneidung in DR. MED., DR. SC. MED. JÜRG STREULI MITGLIED REDAKTIONS- KOMMISSION, LEITENDER ARZT OSTSCHWEIZER KINDERSPITAL FÜR DAS PALLIATIVE CARE TEAM UND PRAXISPÄDIATER IN DER KINDERPRAXIS PAPILLON & VEREIN PALLIVIA IN UZNACH Korrespondenzadresse: streuli@ethik.uzh.ch Ein ethischer Notfallkoffer für die Kinderarztpraxis Illustrationen: Kerstin Walter
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