KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021

23 01 / 2021 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ Die ethische Reflexion Dieses Gefäss dient der Überprüfung bei Unsicherheit in einem Team, ob überhaupt ein ethisches Problem/ Dilemma vorliegt, bevor bei Bedarf eine ethische Fall- besprechung einberufen wird. Mit einer durch ein Mit- glied des KomEths durchgeführten Moderation besteht die Möglichkeit, die Situation zu klären. Die ethische Re- flexion kann sowohl monodisziplinär wie auch interdis- ziplinär eingesetzt werden. Beispiel aus dem Klinikalltag: Die aktuell 12-jährige Patientin leidet seit ihrem 4. Lebensjahr an einer Angst- störung. Sie erträgt Schlucken kaum (trinkt daher auch wenig), macht mehrmals täglich Gewichtskontrollen, empfindet ihr Spiegelbild als zu dick, hat massive Angst vor einer Gewichtszunahme. Sie friert dauernd, ist re- duziert und apathisch. Nach einem kurzen stationären Aufenthalt ist eine Ver- legung auf die Intensivstation (IPS) indiziert. In der ethischen Reflexion wurden die Fakten und Werte des Behandlungsteams zusammengestellt, siehe nach- stehende Tabelle: in den Griff zu bekommen war. Die Eltern waren aber nicht bereit, ihr Kind aufzugeben und wollten, dass ihr Kind reanimiert würde. Es wurde wiederholt mit den El- tern diskutiert, welche Interventionen weiterhin gemacht werden sollen. Dies ging über einige Wochen so. Es war für viele im Betreuungsteam sehr schwierig, das mitzu- tragen. Die Eltern waren immer freundlich, es gab am Bett keine Probleme. Aber wir hielten das Kind künst- lich mit vielen medizinischen Massnahmen am Leben. Mit der Zeit wirkten die Massnahmen nicht mehr und das Kind ist verstorben, ruhig in den Armen der Eltern. Viele Involvierte hatten mit der Situation grosse Mühe. Dies ist kein Einzelfall. Es kommt immer wieder vor, dass Eltern Therapien einfordern, die Betreuende als «nicht mehr gut für das Kind» erleben und sie sich fragen: «Was tun wir hier?» Die Moderation hat die Aufgabe, das Team zu unter- stützen, damit sich die Teammitglieder ihrer Werte be- wusst werden und damit sie die Perspektiven und Werte der Eltern sehen können. Nicht immer kann – im Nach- hinein – eine Lösung gefunden werden. Vielmehr hilft eine Moderation dabei, dass sich jede einzelne Person aus dem Betreuungsteam bewusst wird, welche Werte eine Rolle spielen. Ein Blick in die Zukunft Folgende Projekte sind in Vorbereitung; wir hoffen, bald mit deren Implementierung beginnen zu können: EasyLearn In Vorbereitung ist ein Projekt, um die Struktur des «Easy Learn» (einer internen Plattform für Online-Lear- ning) im Kinderspital zu nutzen. Dies gibt allen Mitar- beitenden einfach die Möglichkeit, ethisches Grundwis- sen und eine ethische Reflexion an einem praktischen Beispiel aus dem Alltag zu üben. Damit soll die ethische Kompetenz an der Basis erhöht werden. Die Mitarbeitenden lernen die internen In- strumente kennen und wissen, wie ethische Fallbespre- chungen einberufen werden. Ethik vor Ort Dies ist ein Projekt zur niederschwelligen und ressour- censparenden Unterstützung des Behandlungsteams im pflegerischen und medizinischen Alltag, in der Form von regelmässigen ethischen Reflexionen «vor Ort», das heisst auf der Station. Ein bis zwei Mal pro Monat wird mit dem Behandlungsteam eine «Ethikvisite» ge- macht. So können niederschwellig Fragen und Probleme besprochen werden. Die Teams werden damit in ihrer Kompetenz unterstützt, Entscheidungen für das weitere Procedere zu treffen, oder es kann bei Bedarf zeitnah ein ethisches Gespräch organisiert und durchgeführt wer- den. Dabei wird eine nachhaltige Kompetenzförderung innerhalb des gesamten Teams angestrebt. ■ Fakten Werte ■ Eltern unterstützen die Therapie ■ Patientin zieht sich Infusion und Sonde nicht, obwohl sie es könnte ■ Sie äussert Zukunftspläne ■ Wehrt sich gegen alles, was mit Essen zu tun hat ■ Muss sediert werden für die Ernährung ■ Braucht viel zeitliche und emotionale Ressourcen ■ IPS-Umgebung ist nicht optimal für diese Patientin ■ Patientin ist oft sediert ■ Sie will nicht sterben, aber auch nicht essen ■ Eltern wollen das Leben erhalten ■ Patientin soll wieder gesund werden (Behandlungsteam) ■ Keine unnötigen Zwangsmassnahmen anwenden ■ Leidensdruck mindern ■ Wir wollen etwas Gutes tun ■ Wir wollen ehrlich sein ■ Keinen Schaden zufügen durch Zwangs- massnahmen ■ Grundbedürfnisse sind wichtig und sollen erfüllt werden (Besuche, Bewegung usw.) ■ Essen ist Leben ■ Niemand soll verhungern Die folgenden Werte werden von allen als zentral erlebt: ■ Keine unnötigen Zwangsmassnahmen anwenden ■ Leben erhalten ■ Leiden mindern ■ Nicht verhungern lassen In einer Güterabwägung ist das wichtigste zur Wahl ste- hende Gut oder das geringste Übel zu wählen. In die- sem Fall wäre es, das Leben zu erhalten. Die ethische Fallnachbesprechung Die Fallnachbesprechung kann einberufen werden, um eine Situation ethisch zu reflektieren und im Nachhinein daraus zu lernen. Beispiel aus dem Klinikalltag: Anfrage aus einem Team an die klinische Ethik: «Wir hatten auf der Station eine Patientensituation, bei der das interdisziplinäre Team einen klaren Konsens für einen palliativen Weg hatte. Das Kind hatte eine angebo- rene Missbildung, welche trotz mehreren Therapien nicht

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