KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021

19 01 / 2021 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ Mascha Hochfeld: Ich erinnere mich gern an den «Aha-Moment», als ich einen kleinen, fast unbe- merkten «Zungenschlag» für mich neu bewerten lernte. So hatte mich zu Beginn meiner ärztlichen Tätigkeit bei einigen meiner arabischen Patien- ten ein verneinendes Schnalzen mit der Zunge auf geschlossene Fragen meinerseits irritiert – ja sogar manchmal gestört. Als ich dies mit einem guten Studienfreund mit türkischen Wurzeln be- sprach, fing er an zu lachen. Erst im anschliessen- den Gespräch fanden wir heraus, wie verschieden dieser Laut bzw. diese Geste in unseren Kulturen gelebt und bewertet wurde. Während es für ihn gleichwertig und völlig wertfrei für «nein» stand, hatte ich dieses Geräusch in meiner eigenen Sozi- alisation als missbilligenden, gar massregelnden oder abschätzigen Laut abgespeichert. Das Wissen, dass die Eltern dieser Kinder mit ihrem «ntt» einfach nur «anders» nein sagen, ist seither für mich eine entscheidende Information, die mich vor manch einer fehl- geleiteten Empfindung bewahrte und viele fälschlicherwei- se als Kränkung empfundene Äusserungen verhinderte. Mascha Hochfeld: In einem anderen Fall stellte sich eine Grossmutter mit ihrem 11 Monate alten Enkel vor, der eine Pharyngitis bei gutem Allge- meinzustand und Trinkverhalten sowie subfebrilen Temperaturen zeigte. Die Mutter des Kindes war ebenso erkrankt und hatte wegen ihrer Halsent- zündung bereits vom Hausarzt ein Antibiotikum seit dem Vortag erhalten. Nun insistierte die Gross- mutter des Kindes auf einen Abstrich und die anti- biotische Therapie. Wie sollte man sich verhalten? Entsprechend den neuen Leitlinien verliert der Streptokok- ken-Schnelltest aus ärztlicher Sicht an Relevanz, da die In- dikation zur antibiotischen Therapie viel zurückhaltender gestellt wird. In bestimmten Kulturen ist hingegen nach wie vor eine «Halsentzündung» eng mit einem Abstrich und der Gabe von Antibiotika assoziiert. In einer Zeit, in der diagnostisch und therapeutisch vieles möglich, jedoch nicht immer nötig und sinnvoll ist, macht dieses Erlebnis deutlich, wie schnell auch kleine Entschei- dungen ethische Relevanz bekommen. Hier zeigte sich: nicht jeder Auftrag kann und muss angenommen werden. Es gilt das Anliegen ernst zu nehmen und zu versuchen, es zu verstehen. Und spannend wird es, wenn danach der neue Auftrag der Grossmutter lautet, die ärztliche Sicht- weise mitzuteilen und ihre Bereitschaft spürbar wird, auch unsere Ansicht ernsthaft zu überlegen. Doch nicht nur im Umgang mit Patientinnen und deren Angehörigen stösst man auf ethische Fragestellungen oder stolpert über kulturelle (Miss-)Verständnisse – auch im eigenen Team werden wir gerade im Zuge der Corona- Pandemie vor so manche Herausforderung gestellt. Dabei spielt vermutlich die Ungewissheit wie auch die Dimensi- on der Bedrohung eine Rolle. So diskutierten wir im Zuge der ersten Welle, ob es bei abnehmender Arbeitslast infol- ge ausbleibender Patientenkonsultationen nicht besser sei, wenn die älteren Mitarbeitenden zu Hause blieben. Von einer anderen Praxis erfuhren wir gar, dass man sich ent- schieden hatte, die Aufgabe der Corona-Abstriche gänz- lich den Jüngeren zu überlassen. Immerhin sei deren Risi- ko geringer und die Prognose vermutlich günstiger, sollte es zu einer Infektion am Arbeitsplatz kommen! Aber ist das ethisch, ist das kollegial? Der Schlüssel zur Lösung ist auch hier eine offene Kommunikationskultur. Ein offenes Ansprechen von Ängsten und das Suchen eines Teamkon- sens half uns, einen guten Umgang zu finden, der für alle stimmte. Und neue Themen wie der Umgang mit den Imp- fungen im Team wie auch in der Öffentlichkeit werden uns in den kommenden Wochen weiter beschäftigen. Zusammenfassend braucht es gerade bei ethischen Fragen das neugierige, offene Hinhö- ren und im Sinne des Kindes und seiner Familie unser Mitdenken. So stand vor vielen Jahren auf einem Plakat im Zürcher Kinderspital geschrieben: «Wir halten Sprechstunden ab, gibt es auch Hörstunden dazwischen?» In diesem Sinne: «Lasst uns gut hinhören – wir werden reich beschenkt!» ■

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