KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 1/2021

18 FORTB I LDUNG: THEMENHEFTTE I L 01 / 2021 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ Sepp Holtz: Vor einiger Zeit kam eine Mutter aus Sri Lanka mit ihrer 12-jährigen Tochter in die Pra- xis. Das Mädchen berichtete, es habe Halsschmer- zen und könne nicht in die Schule. Die Untersuchung ergab einen völlig unauffäl- ligen Befund. Als ich dem Mädchen und seiner Mutter mitteilte, es könne problemlos zum Un- terricht, begannen beide zu weinen. Ich war irri- tiert und konnte die Situation nicht einordnen. Auf meine Nachfrage hin klärte mich die Mutter auf: In ihrer Religion (Hinduismus) sei heute ein ganz wichtiger Tag für ihre Tochter; sie habe die erste Menstruation bekommen und werde nun drei Tage lang verwöhnt und bekocht. Als sie heute Morgen der Lehrerin mitgeteilt habe, ihre Tochter komme deswegen nicht in die Schule, habe die Lehrerin sinngemäss gesagt: «Wir hier in der Schweiz machen deswegen kein gros- ses Tamtam.» Die Tochter müsse in die Schule. Ich habe damals nicht nur einen dreitägigen Dispens ver- schrieben, sondern blieb selbst nachdenklich zurück: Könnten nicht wir von diesem Ritual lernen? Täte es uns in unserer Kultur nicht gut, Mutter und Tochter bei der ers- ten Menstruation vermehrt zu ermuntern, etwas Schönes gemeinsam zu unternehmen, von Frau zu Frau? Sepp Holtz: Ich erinnere mich auch gerne an das ethische Ringen im Fall der schwerstbehinder- ten neunjährigen Lea (Name geändert), ein Mäd- chen einer orthodox jüdischen Familie. Ihr kog- nitiver Entwicklungsstand entsprach dem eines Säuglings. Sie hatte eine schwere Epilepsie und war körperlich mehrfach versehrt. Im Verlauf des zehnten Lebensjahres zeichnete sich eine zuneh- mende Niereninsuffizienz ab. Die Eltern betonten mir gegenüber, dass für sie aus religiösen Gründen ein maximal langes Le- ben unantastbar sei, unabhängig von einer von aussen sowieso nur schwer zu beurteilenden Le- bensqualität. Darum baten sie mich, bei dem an- stehenden Gespräch mit dem Chefarzt der Neph- rologie als Moderator zur Verfügung zu stehen. Das Gespräch verlief dann wie seitens der Eltern befürchtet. Während die Eltern auf eine Dialy- se drängten, war der Nephrologe sehr skeptisch. Ohne Aussicht auf eine Transplantation komme eine Dialyse nicht infrage – und eine Transplan- tation bei diesem schwerstbehinderten Kind, bei welchem aus verschiedenen Gründen schon nur die Narkose ein Risiko war – sowieso nicht… Ich bestand auf eine Denkpause, ohne, um ehr- lich zu sein, eine Änderung der verhärteten Fron- ten zu erwarten. Eine Woche später traf ich die Familie erneut und erfuhr, dass diese im Gespräch mit dem Rabbiner von ihrer nicht verhandelbaren Vorstellung der Dialyse etwas abgekommen wa- ren. Noch viel grösser war dann die Überraschung, als auch der Chef der Nephrologie berührt mitteil- te, aufgrund der tief religiösen Überzeugung der Eltern sei er bereit, nochmals über die Bücher zu gehen und eine Dialyse abzuwägen. Dieses Gespräch blieb unvergesslich. Beide Seiten hatten sich aufeinander zubewegt und plötzlich stand Lea wie- der im Zentrum, so wie es sein sollte. Die Eltern und die beteiligten Ärztinnen entschieden sich gemeinsam gegen die Dialyse und Lea verstarb einen Monat später, palliativ optimal betreut und friedlich begleitet von den religiösen Gesängen ihrer Familie. DR. MED. MASCHA HOCHFELD ASSISTENZÄRZTIN, LEHRPRAXIS «KIND IM ZENTRUM», ZÜRICH-WOLLISHOFEN KD DR. MED. SEPP HOLTZ FACHARZT FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN FMH, LEHRPRAXIS «KIND IM ZENTRUM», ZÜRICH-WOLLISHOFEN Korrespondenzadresse: sepp.holtz@gmail.com In der modernen pädiatrischen Praxis achten wir besonders auf die Kommunikation, hören gut zu und klären den Auftrag. Wir werden reich beschenkt, wenn wir neugierig ethnischen, kulturellen oder religiösen Aspekten der «hidden agenda» auf die Spur kommen, diese würdigen und etwaige Probleme lösen können. Es ist unsere Aufgabe als Kinderärzte, (in medizinischen Belangen) Anwältinnen der Kinder und ihrer Familien zu sein und dabei oft Brücken zu anderen Kulturen und Religionen zu schlagen. «Be curious, not judgemental» Eine Ethik der kulturellen (Miss-)Verständnisse im Praxisalltag Lehrpraxis «Kind im Zentrum»/KD Dr. med. Sepp Holtz, Zürich

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