KINDERÄRZTE.SCHWEIZ 4/2020

48 FÜR S I E GELESEN 04 / 2020 K I N D E R Ä R Z T E . SCHWEIZ B ücher haben ihr eigenes Schicksal. Dieses geflügelte Wort hat das jüngste Werk von Remo Largo schon vor dessen Erscheinen im Buchhandel begleitet. In sei- nem Buch: «Zusammen leben» vertritt er prägnant und kompromisslos eine Lebensphilosophie, die auf dem Fit-Prinzip beruht. Das Manuskript war bereits auf dem Weg zur Druckerei, als die Corona-Pandemie ausbrach. Plötzlich schienen der Titel des Buches und sein Aufruf zu mehr Solidarität und sozialer Vernetzung unverein- bar zu sein mit der Forderung nach Social Distancing, der Isolation von Risikogruppen, Schulschliessungen und dem Rückzug ins Homeoffice. Für kurze Zeit drohte das Buchprojekt zu scheitern. Doch schon bald stellte sich heraus, dass die pandemie- bedingte Isolation zu vermehrter Selbstreflexion führ- te und schon lange bestehende Fehlentwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft schonungslos aufdeckte. Largo nutzte die Chan- ce des Best Teachab- le Moment, um seine Gedanken in den öf- fentlichen Diskurs über die Neugestaltung der Welt nach der Corona- Pandemie einzubrin- gen. Im Gegensatz zu vielen Vorschlägen, die unter dem Druck des Tagesgeschehens ge- schrieben wurden, sind Largos Gedanken schon lange vor der Pandemie gereift. Der erste Teil des Bu- ches ist den Grundele- menten des Fit-Prinzips gewidmet, die der Au- tor in seinen Bestsel- lern «Babyjahre» und «Kinderjahre» im Kon- text der kindlichen Ent- wicklung dargelegt und im Buch «Das passende Leben» auch für die Welt der Erwachsenen gefordert hat. Dabei gilt es die Grundbedürfnisse, die unser Le- ben bestimmen, die Kompetenzen, die uns leistungs- fähig machen, und die Vorstellungen, die uns leiten, sozialverträglich umzusetzen. Als biologisch geprägter Forscher weist der Autor darauf hin, dass das Fit-Prin- zip nicht nur für uns Menschen, sondern für alle Lebe- wesen gilt, denn alle wollen ihr Potenzial entfalten und in Übereinstimmung mit der Umwelt leben. Im zweiten Teil des Buches wird untersucht, was wir aus der Umwelt gemacht haben und wie stark die von Men- schen geprägte Umwelt unser Leben verändert hat. Mit einem originellen Ansatz stellt Largo der biologischen Evolution die soziokulturelle Evolution zu Seite. Dabei widersteht er der Versuchung, die eindrücklichen wirt- schaftlichen und technologischen Fortschritte der letz- ten Jahrzehnte nur schlechtzureden. Gespannt wartet der Leser auf die im dritten Teil des Buches folgenden Vorschläge zur Neugestaltung des Zusammenlebens. Der Autor sieht unsere Zukunft be- droht durch ungebremstes Wirtschaftswachstum, Über- nutzung der Ressourcen, Auflösung überschaubarer Lebensgemeinschaften, emotionale Verarmung und so- ziale Vereinsamung. Mit seinen Empfehlungen schlägt er eine Brücke zwischen Natur- und Geisteswissen- schaften. Er plädiert nicht nur für die existenziell wich- tige Erhaltung der Natur, sondern auch für die Pflege der Beziehungsnetze, des Verantwortungsgefühls, der Hilfsbereitschaft und der Nächstenliebe. In den ersten medialen Reaktionen auf das Buch kommt neben viel Anerkennung immer auch Skepsis gegen- über der Realisierbarkeit von Largos Forderungen auf. Doch es gilt zwischen Utopie und Vision zu unterschei- den. Wo stünde heute die kinderärztliche Versorgung in Kambodscha, wenn nicht Beat Richner vor 30 Jahren eine Vision zu deren Verbesserung entwickelt hätte? Es lohnt sich, Visionären zuzuhören, bevor man ihren Ide- en entgegen hält, sie seien schwer zu realisieren oder nicht nachhaltig genug. Kinderärztinnen und Kinderärz- te sind in besonderer Weise gefordert, nicht nur an das Wohlergehen der eigenen, sondern auch an das künf- tiger Generationen zu denken. ■ AUTOR: DR. MED. ARNOLD BÄCHLER KINDER- UND JUGENDARZT FMH IM RUHESTAND, ST. GALLEN Korrespondenzadresse: arnold.baechler@hin.ch S. Fischer, 2020, Fr. 19.90, ISBN 978-3-10-397025-8 «Zusammen leben. Das Fit-Prinzip für Gemeinschaft, Gesellschaft und Natur» Remo H. Largo

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